"Culture of Care" – Das hilft Jungen*, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind

Portrait Elli Scambor

Elli Scambor berichtet in ihrer Expertinnenstimme über das Thema Sexualisierte Gewalt gegen männliche* Kinder und Jugendliche welches häufig immer noch im Verborgenen bleibt. Betroffene haben oftmals Schwierigkeiten, in ihrem Umfeld Unterstützung zu finden. Einer der Gründe dafür ist das nach wie vor bestehende Vorurteil, dass männliche* Kinder und Jugendliche nicht von sexualisierter Gewalt betroffen seien, wodurch männlichen* Betroffenen nicht genügend Aufmerksamkeit zukommt.

Das Culture of Care Handbuch ist ein Handbuch für Fachkräfte, das mit gängigen Mythen und Missverständnissen aufräumt und soll Fachkräften, die mit Kinder und Jugendlichen arbeiten, Informationen zur Betroffenheit von Jungen* zur Verfügung stellen. Es soll Fachkräfte in die Lage versetzen, durch das Schaffen einer Culture of Care (Kultur der Fürsorglichkeit) in ihrem Arbeitsumfeld Betroffene zu unterstützen und zur Vorbeugung von sexualisierter Gewalt beizutragen.

Autorin:  Mag.a Elli Scambor, Soziologin, Pädagogin, Männlichkeiten- und Geschlechterforscherin, Institut für Männer- und Geschlechterforschung (VMG Graz)

Thema März 2020

Sexualisierte Gewalt gegen männliche* Kinder und Jugendliche ist immer noch ein Thema im Verborgenen, obwohl Dunkelfeldstudien in Österreich Prävalenzraten von 27,7% weiblichen und 12% männlichen Kindern aufzeigen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind (Kapella et al. 2011).

Betroffene Jungen* haben oft Schwierigkeiten, in ihrem Umfeld Unterstützung zu finden. Einer der Gründe dafür ist das nach wie vor bestehende Vorurteil, dass männliche* Kinder und Jugendliche nicht von sexualisierter Gewalt betroffen seien, wodurch ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit zukommt.

Zudem sind Fachkräfte oft mit dem Thema überfordert und wissen nicht, wie sie männliche* Betroffene unterstützen können. Beides ist eng damit verknüpft, wie Männlichkeiten in europäischen Gesellschaften konstruiert werden: Mit traditionellen Männlichkeitsanforderungen lassen sich Verwundbarkeit und Betroffenheit von Gewalt nur schwerlich vereinbaren.

Deswegen beschreibt das im Rahmen des EU-Projekts Culture of Care entwickelte Handbuch "Unterstützende Lebenswelten gegen sexualisierte Gewalt schaffen" sexualisierte Gewalt gegen männliche* Kinder und Jugendliche aus einer Perspektive, die Geschlecht als einen die Gewaltbetroffenheit beeinflussenden Faktor mitdenkt und thematisiert die gängigsten Mythen und Missverständnisse, mit denen betroffene Jungen* konfrontiert werden.

Aufdeckungshindernisse für männliche* Kinder und Jugendliche

Forschungen der letzten Jahre, die sich mit Aufdeckungsprozessen von sexualisierter Gewalt bei Jungen* beschäftigt haben (z.B. Rieske et al. 2018; Mosser. 2009) konnten zeigen, dass Jungen* im sozialen Diskurs rund um sexualisierte Gewalt kaum vorkommen. Vielmehr wird häufig ein heteronormatives Bild sexualisierter Gewalt konstruiert das "Täter" vorwiegend "männlich" und Betroffene vorwiegend "weiblich" fasst.

Werden Jungen* als mögliche Betroffene nicht genannt, dann tauchen sie in der öffentlichen Wahrnehmung auch nicht auf. Dies hängt u.a. mit hegemonialen Strukturen und traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit zusammen (vgl. Connell, 2000): Jungen* und Männer* sollen sich souverän/unabhängig, stark, sicher und heterosexuell darstellen.

Solche Männlichkeitsanforderungen können Aufdeckungsprozessen im Wege stehen, weil dadurch bspw. der Zugang zu Emotionen wie Angst und Unsicherheit eingeschränkt wird. Ebenso stehen Ängste vor Diffamierungen ("unmännlich", "nicht wehrhaft"), vor zugeschriebener Täterschaft ("aus Opfern werden Täter") oder die Sorge, für homosexuell gehalten und damit abgewertet zu werden, der Aufdeckung hinderlich im Wege (vgl. Rieske et al. 2018; Mosser. 2009).

Die Frage, was bei männlichen Betroffenen eine Aufdeckung verhindert, ist mehrmals in der Forschung erörtert worden (vgl. Priebe und Svedin 2008; Bange 2007), die Frage aber, was für Aufdeckungsprozesse förderlich sein kann und unter welchen Bedingungen diese gelingen können, wurde erst vor kurzem näher beleuchtet (siehe Rieske et al. 2018; Scambor 2017).

Aufdeckung kann Gewalt beenden und Integrations- und Aufarbeitungsprozesse unterstützen, kann aber die Situation der Betroffenen auch verschlimmern, z. B. wenn soziale Beziehungen enden, es zu psychischen Beeinträchtigungen oder einer Vergeltung der Täter*innen kommt.

Wegen dieser Risiken ist es notwendig, günstige Aufdeckungsbedingungen zu schaffen. Zugleich ist es jedoch entscheidend, Bewältigungsstrategien von Betroffenen zu erkennen und anzuerkennen, die darin liegen können, nicht über Widerfahrnisse zu sprechen und das Geschehene vergessen zu wollen.

Projekte wie Culture of Care und aktuelle Studien (siehe Rieske et al. 2018) widmen sich der Frage nach Gelingensbedingungen für Aufdeckungsprozesse. Diese beziehen sich auf Aspekte des Erinnerns an das Geschehene, der Einordnung des Erinnerten als ‚sexualisierte Gewalt', sowie der Offenlegung, und haben dabei die besondere Situation von männlichen* Kindern und Jugendlichen im Blick.

Wissen

Für die meisten Betroffenen ist es wichtig zu wissen, was geschehen ist (Ereigniswissen), um einen bewussten Umgang mit den Gewaltwiderfahrnissen zu finden. Erinnerungen können unterdrückt werden und müssen durch Erinnerungsarbeit wiedererlangt werden. Diese Prozesse können durch Diskurswissen begünstigt werden, also gesellschaftliche Diskurse in denen sexualisierte Gewalt gegen Jungen* zum Thema gemacht wird.

Studien zeigen, dass es jüngeren Männern* offenbar leichter fällt, das ihnen Widerfahrene als Gewalt einzustufen (vgl. Scambor et al., 2018). Eine Erklärung dafür kann die größere Aufmerksamkeit sein, die dem Thema in den letzten Jahren zugekommen ist, sowie die gesellschaftliche Debatte, die sich darum entsponnen hat.

Des Weiteren stellt das Prozesswissen - also Wissen über Abläufe in Einrichtungen (z.B. was passiert bei einer Therapie?) und zu den möglichen Folgen einer Aufdeckung (z.B. welche rechtlichen Vorgänge werden angestoßen?) - eine weitere für Aufdeckungsprozesse wichtige Art des Wissens dar.

Damit in engem Zusammenhang steht das Strukturwissen, das bezeichnet, dass den Betroffenen die Existenz von Fachberatungsstellen bewusst ist und dass sie wissen, wie diese zu erreichen sind. Fachkräfte können Erinnerungsarbeit unterstützen, indem sie sexualisierte Gewalt gegen männliche* Kinder und Jugendliche behutsam thematisieren. Das kann zum Beispiel geschehen, indem sie Info-Poster aufhängen, die Jungen* als (potenzielle) Betroffene ansprechen, indem sie, wenn sie das Thema sexualisierter Gewalt anschneiden, immer auch Jungen* mit erwähnen, oder indem sie mediale Berichterstattung zu männlichen* Betroffenen zum Anlass nehmen, um mögliche Schritte und Konsequenzen einer Offenlegung mit jungen Menschen zu diskutieren.

Anerkennung und Solidarität

In Aufdeckungsprozessen geht es u.a. darum, den eigenen Gefühlen zu vertrauen, und von anderen darin ernstgenommen und anerkannt zu werden. Anerkennende Reaktionen ("Ich glaube dir" oder "Dich trifft keine Schuld") können Betroffenen dabei helfen, Schuldgefühle und/oder Unsicherheiten zu überwinden.

Viele betroffene Jungen* berichten, dass sie von Menschen, denen gegenüber sie sich anvertraut haben, gefragt wurden, wieso sie sich nicht gewehrt hätten. Oftmals zeichnet sich auch eine Rollenumkehr ab, in der Betroffene als potenzielle Täter* stigmatisiert werden (und ihnen zum Beispiel plötzlich der Kontakt zu Kindern untersagt wird). Demnach ist es nicht überraschend, dass viele Betroffene es als hilfreich empfinden, wenn die Schuld und die Verantwortung für die Gewalt klar den Täter*innen zugewiesen wird, wenn sie erleben, dass ihre Erzählungen anerkannt und ihnen Glauben geschenkt wird, wenn es deutlich wird, dass sie sich nichts vorzuwerfen haben, und wenn ihr soziales Umfeld sowie die mit ihnen arbeitenden Fachkräfte ihre Verantwortung wahrnehmen und die Betroffenen unterstützen.

Culture of Care - Kultur der Sorge

Unterstützenden und wachsamen Menschen kommt in Aufdeckungsprozessen eine besondere Rolle zu. In Betroffenenstudien wird von (un)beabsichtigten Signalen berichtet, die Jungen* als Kinder gezeigt haben (z.B. sich in eine Plastikfolie gewickelt knisternd an den Abendbrottisch zu setzen oder voll bekleidet schlafen zu gehen), die aber vom sozialen Umfeld ignoriert oder nicht verstanden wurden (siehe Scambor, 2017). Diese Signale müssen erkannt werden und bei den Angesprochenen Fragen aufwerfen. Das bedeutet nicht, dass Kinder oder Jugendliche zum Reden gezwungen werden sollten, denn auch für Schweigen gibt es gute Gründe.

Rede- und Hilfsangebote eröffnen aber "Räume zum Reden" und diese Angebote müssen wieder und wieder gemacht werden, da Kinder und Jugendliche einschätzen können wollen, ob ein derartiges Angebot ernstgemeint ist und ob sie den Fachkräften vertrauen können, die Unterstützung anbieten. Nach einem Missbrauch ist es für viele Betroffene schwierig, Personen zu vertrauen und sich auf Beziehungen einzulassen. Deshalb sind wiederkehrende Beziehungsangebote durch Personen, die einen sicheren Rahmen schaffen (Safe Space), von zentraler Bedeutung.

Nicht immer wird das Unterstützungsbedürfnis von Jungen* erkannt. Die Aufmerksamkeit des Umfelds ist aber ein hilfreicher Faktor für Offenlegungen, besonders dann, wenn die Betroffenen sich in der Einordnung des Geschehenen unsicher sind. Fachkräfte, denen bewusst ist, dass Jungen* von sexualisierter Gewalt betroffen sein können und Unterstützung benötigen, können diejenigen sein, an die sich betroffene Jungen* in der Offenlegung zunächst wenden. Deshalb sind ein niedrigschwelliges Angebot und ein Bewusstsein für die vielfachen Schwierigkeiten, vor denen Betroffene stehen, wichtige Faktoren für die Erkennung von sexualisierter Gewalt gegen Jungen*.

Handlungsfähigkeit der Betroffenen jenseits vom System der Gewalt

Betroffene können eine Offenlegung als befreiend erleben, wenn sie das Gefühl haben, dass sie den Prozess kontrollieren können. In diesem Kontext heißt das, dass es die Entscheidung der Betroffenen ist, wann, mit wem und auf welche Weise sie über die Gewalt sprechen. Das bedeutet, dass sie beeinflussen können, was mit ihrer Geschichte passiert, wer davon erfährt, und wer nicht.

Genauso sind sie es selbst, die entscheiden, ob und wenn ja wie eine Konfrontation mit dem*der Täter*in stattfinden soll, und welche Schritte im Aufdeckungsprozess unternommen werden. Deshalb muss die Unabhängigkeit der Betroffenen vom System der Gewalt sichergestellt werden.

In manchen Fällen bedeutet diese Unabhängigkeit eine räumliche Entfernung, in anderen eine finanzielle und emotionale Unabhängigkeit. Letztere kann zu einer Vorbedingung dafür werden, dass die Gewalt von den Betroffenen als solche anerkannt werden kann.

Dass Betroffene aktiv beteiligt werden und Kontrolle über das Vorgehen haben ist in Aufdeckungsprozessen besonders zentral, da das Gefühl handlungsunfähig und ausgeliefert zu sein bei den Betroffenen keinesfalls reproduziert werden soll, sondern ihnen Alternativen aufgezeigt werden sollen. Unter anderem heißt das, dass die Informationen, die Kinder und Jugendliche teilen, ernst genommen werden müssen und nicht bagatellisiert oder abgelehnt werden dürfen, denn es bedarf einer anerkennenden Haltung der am Aufdeckungsprozess Beteiligten gegenüber den Betroffenen sexualisierter Gewalt. Um Aufdeckungsprozesse überhaupt erst möglich zu machen müssen auch Gespräche über legitime und unrechtmäßige (sexuelle) Handlungen geführt werden.

Das im Rahmen des EU-Projekts Culture of Care entwickelte Handbuch „Unterstützende Lebenswelten gegen sexualisierte Gewalt schaffen" soll Fachkräften, die mit Jungen* arbeiten, Informationen zu sexualisierter Gewalt gegen männliche* Kinder und Jugendliche zur Verfügung stellen. Es soll pädagogische Fachkräfte in die Lage versetzen, sexualisierter Gewalt vorzubeugen, sowie Betroffene durch eine Kultur der Sorge und des Hinsehens in ihrem Arbeitsumfeld zu unterstützen.

Fachkräfte tragen maßgeblich dazu bei, die Situation Betroffener zu verbessern, indem sie dafür sorgen, dass männliche* Kinder und Jugendliche in ihnen kompetente Ansprechpersonen finden, die sich mit den besonderen Anforderungen des Themas sexualisierte Gewalt beschäftigt haben.

Literatur

  • [1] Scambor, Elli und Johanna Stadlbauer: Unterstützende Lebenswelten gegen sexualisierte Gewalt schaffen. Ein Praxishandbuch für Fachkräfte die mit Jungen* arbeiten. 2019
  • [2] Bange Dirk: Sexueller Missbrauch an Jungen. Die Mauer des Schweigens. Göttingen: Hogrefe, 2007
  • [3] Connell, R.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen: Leske + Budrich, 1999
  • [4] Kapella, O., Baierl, A., Rille-Pfeiffer, C., Geserick, C., Schmidt, E., cooperation with Monika Schröttle: Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern. Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien, 2011
  • [5] Mosser, P.: Wege aus dem Dunkelfeld. Aufdeckung und Hilfesuche bei sexuellem Missbrauch an Burschen Wiesbaden: VS Verlag, 2009
  • [6] Priebe, G. & Svedin, C. G.: Child sexual abuse is largely hidden from the adult society: An epidemiological study of adolescents’ disclosures. In: Child Abuse & Neglect, 32(12), p. 1095–1108, 2008
  • [7] Rieske, Th. V., Scambor, E., Wittenzellner, U., Könnecke, B. & Puchert, R.: Aufdeckungsprozesse männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend. Wiesbaden: Springer VS., 2018
  • [8] Scambor, E.: „… erzähl, wenn dir danach ist. Ich höre zu.“ Hilfreiche Bedingungen und Aufdeckungsverläufe bei männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend. In: wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit, Bd. 17., 2017