Dachverband "Vernetzter Opferschutz und Opferschutzorientierte Täterarbeit" (DVOTA)

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Nach einer kurzen Auffrischung zur opferschutz­orientierten Täterarbeit stellen Michaela Gosch und Christian Scambor in diesem Beitrag der Dachverband "Vernetzter Opferschutz & Opferschutz­orientierte Täterarbeit (DVOTA)" vorgestellt. Der DVOTA wurde im Jahr 2021 gegründet und umfasst spezialisierte Einrichtungen im Bereich des Opfer­schutzes und der Täterarbeit als Mitglieder. Anhand eines Modells, das verschiedene Ebenen von Gewaltzyklen betrachtet, wird erläutert, warum es von Anfang an wichtig war, den Kinderschutzbereich in den DVOTA einzubeziehen.

Autorin und Autor:  Michaela Gosch, MBA, Leiterin des Vereins Frauenhäuser Steiermark, Obfrau des DVOTA. Dr. Christian Scambor, Leiter der Gewaltarbeit im VMG Steiermark, Obfrau-Stellvertreter im DVOTA.

Thema  November 2023

Einleitung und Kontext

Die Geschichte der Opferschutzorientierten Täterarbeit (OTA) und eine genauere Beschreibung der wesentlichen Aspekte dieses Arbeitsansatzes wurden in der gewaltinfo bereits früher dargestellt (Scambor & Haydn, 2021)[1].

Opferschutzorientierung ist ein Arbeitsprinzip in der psychosozialen Arbeit mit gewalttätigen Personen, bei denen die Sicherheit, die Unterstützung und die Menschenrechte der Opfer ein vorrangiges Anliegen sind (wie es im Artikel 16 der Istanbul-Konvention[2] für Täterarbeitsprogramme bei Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt formuliert wird).

Die Umsetzung dieses Arbeitsprinzips erfordert daher eine institutionelle und fallbezogene Zusammenarbeit zwischen Opferschutzund Täterarbeits-Einrichtungen, die auf Informationsaustausch zwischen diesen Einrichtungen beruht, was opferschutzrelevante Inhalte (d. h.: Risikofaktoren für erneute Gewalthandlungen) betrifft. Dazu werden üblicherweise Verschwiegenheitsentbindungen von den Klient:innen eingeholt. Bei Verdacht auf hohes Risiko für erneute Gewalthandlungen kann dieser Informationsaustausch aber auch ohne Verschwiegenheitsentbindungen erfolgen, auf der Basis einer Güterabwägung und zur gemeinsamen Interventionsplanung, um das Gewaltrisiko zu senken.

Das Arbeitsprinzip der Opferschutzorientierung kann daher mit anderen wichtigen Prinzipien der psychosozialen Arbeit (z. B. Vertraulichkeit, Möglichkeit der Anonymität) in Konflikt geraten. Scambor und Haydn (2021) haben vorgeschlagen, die Arbeitsweisen in der Täterarbeit zu unterscheiden, je nachdem, welchen Arbeitsprinzipien sie stärker verpflichtet sind ("Verschwiegenheitsparadigma" oder "Kooperationsparadigma"/OTA).

Im Dunkelfeld macht die klassische Vorgangsweise (Verschwiegenheitsparadigma) durchaus Sinn, z. B. bei 24/7-Hotlines wie der Männerinfo[3] oder bei anonymen (Erst-)Kontakten in Beratungsstellen. Je mehr sich ein Fall von Gewalttätigkeit im Hellfeld befindet (z. B. wenn Behörden eingeschalten sind, Betretungs- und Annäherungsverbote verhängt werden etc.), desto eindeutiger ist OTA der Ansatz der Wahl.

Einrichtungen, die den OTA-Ansatz umsetzen, versuchen in jedem Fall, ihre eigene Schnittstelle für die Kooperation aufzubereiten und die entsprechenden Verschwiegenheitsentbindungen einzuholen. Stolpersteine für eine gelingende Umsetzung der Kooperation gibt es aber immer, z. B. die Ungleichzeitigkeit der Interventionen:

Eine gewaltbetroffene Frau hat die Beratung in der Opferschutzeinrichtung vielleicht schon beendet, bevor der gewalttätige Mann bei der Täterarbeitseinrichtung vorstellig wird. In diesem Fall wird eine einrichtungsübergreifende Arbeit im Moment nur sehr beschränkt möglich sein[4] – der Grundstein für eine zukünftige Zusammenarbeit wäre aber gelegt, falls sich Opfer und Täter beispielsweise in einer zyklischen Gewaltdynamik befinden.

Opferschutzorientierte Täterarbeit – Vernetzte Opferschutzarbeit

Der Begriff der OTA wurde bisher meistens im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt bzw. Gewalt in der Familie bzw. Gewalt im sozialen Nahraum[5] diskutiert, wobei das Arbeitsprinzip der Opferschutzorientierung in allen Kontexten Anwendung finden sollte, in denen es sinnvoll und nutzbringend ist. Beispielsweise wären Fälle von sexueller Belästigung im öffentlichen Raum, bei denen davon auszugehen ist, dass sich Opfer und Täter weiterhin begegnen werden, genauso Anwendungsgebiete für OTA, weiters Fälle von Gewalt zwischen Jugendlichen etc.[6]

Für den vorliegenden Beitrag fokussieren wir aber auf den – derzeit am weitesten ausgearbeiteten – Gewaltkontext von Gewalt in der Familie und verwenden folgende Definition von OTA:

"Zusammengefasst werden unter Opferschutzorientierter Täter-/Täterinnenarbeit (OTA) Interventionen bei Fällen von Gewalt im sozialen Nahraum und häuslicher Gewalt verstanden, die zum Ziel haben, das Verhalten der gewalttätigen Personen zu verändern, Gewalt zu beenden und die gewaltbetroffenen Personen vor erneuter Gewalt zu schützen, zu unterstützen und zu stärken. Dieses Ziel wird arbeitsteilig und vernetzt von Täter-/Täterinnenarbeits- und Opferschutzeinrichtungen umgesetzt, wobei auch mit den zuständigen Behörden zusammengearbeitet wird." (DVOTA Mindeststandards)

In dieser Passage wird u. a. auf die Arbeitsteiligkeit von Opferschutz- und Täterarbeits-Einrichtungen hingewiesen. Auch damit wird der Bezug zur Istanbul Konvention hergestellt, die eine enge Zusammenarbeit dieser Einrichtungen einfordert. Kooperation zwischen Einrichtungen bedeutet für jede beteiligte Organisation neue Herausforderungen und oft Modifikationen der eigenen Arbeitsweisen. Um dies herauszustreichen, wurden im Namen des Dachverbandes, der im nächsten Abschnitt genauer beschrieben wird, beide Einrichtungs-Arten explizit benannt: "Dachverband Vernetzter Opferschutz & Opferschutzorientierte Täterarbeit – DVOTA".

DVOTA

Nach der Auflösung der Vernetzungsplattform "Bundesarbeitsgemeinschaft Opferschutzorientierte Täterarbeit (BAG-OTA)" wurde im Juni 2021 der "Dachverband Opferschutzorientierte Täterarbeit (DV-OTA)" als gemeinnütziger Verein gegründet.

Der Verein setzt sich aus spezialisierten Opferschutzeinrichtungen (Gewaltschutzzentren, Frauenhäuser, Kinderschutzzentren) und spezialisierten Täter-/Täter:innenarbeits-Organisationen (Männerberatungen mit OTA-Arbeitsbereich, NEUSTART, Beratungsstellen für Gewaltprävention) zusammen, d. h. bei den Mitgliedern handelt es sich um juristische Personen.

Den Vorstand des Vereines bilden natürliche Personen aus den Mitglieds-Organisationen:

  • 3 Personen kommen aus dem Opferschutzbereich (jeweils eine Person aus einem Gewaltschutzzentrum, Frauenhaus und Kinderschutzzentrum),
  • 3 Personen aus der Täter-/Täterinnenarbeit (jeweils eine Person aus einer Männerberatung, aus einer Beratungsstelle für Gewaltprävention und von NEUSTART).

Dadurch wird eine ausgewogene Gewichtung zwischen Opferschutz und Täterarbeit im Vorstand gewährleistet. Bei den Mitgliedern in der Generalversammlung sorgt eine
Stimmgewichtungs-Methode ebenso für eine Gleichverteilung der Machtverhältnisse: Opferschutz und Täterarbeit haben insgesamt immer dasselbe Ausmaß an Abstimmungs-Punkten.

Zentrales Kriterium für die Aufnahme als ordentliches Mitglied im DVOTA ist, dass die Einrichtungen bereits in konkreten OTA-Praxisprojekten zusammenarbeiten müssen.[8]

Dies weisen die antragstellenden Einrichtungen durch ihre OTA-Arbeitskonzepte, die Beschreibung der konkreten Zusammenarbeit auf institutioneller und Fall-Ebene (mit Angabe der kooperierenden Einrichtungen und den dortigen Kontaktpersonen) nach (vgl. Abbildung 1 für die schematische Darstellung eines OTA-Kooperationsprojekts).

Hintergrund dieses Aufnahmekriteriums ist die Erfahrung, dass sich kooperierende Einrichtungen durch die konkrete Arbeit an gemeinsamen Fällen in einen wechselseitigen Lernprozess begeben haben und so ein besseres Verständnis für die Arbeitsweisen und Perspektiven der jeweils anderen Einrichtung mitbringen.

Die Diskussionen im Dachverband können dadurch mit einer verbreiterten Sichtweise aller Mitglieder erfolgen und sind weniger an Zuschreibungen und Vorannahmen orientiert, sondern viel mehr an Erfahrung und Pragmatik. Dies macht sich insbesondere bei der Arbeit an Standards bezahlt.

Bislang waren 3 Arbeitsgruppen tätig, die sich mit Standards in den Bereichen Datenschutz, Hochrisiko und Begleitete Gespräche (z. B. im Paarsetting, aber auch in anderen Settings) beschäftigten.

Grafik: Opfer-Täter-Arbeit (OTA) Kooperationsprojekt. Quelle: Gewaltschutzstrategie des Landes Steiermark
Abbildung 1: OTA-Fall: Schematische Darstellung in Anlehnung an DV-OTA. Quelle: Gewaltschutzstrategie
des Landes Steiermark, Amt der Steiermärkischen Landesregierung, 2022

Da sich Kooperationsprojekte erfahrungsgemäß auf regionaler bzw. Bundesländer Ebene bilden und sie auch dort funktionieren müssen, hat sich der DVOTA eine entsprechende Struktur gegeben.

Die Mitglieds-Organsationen betreiben ihre Kooperationsprojekte mit anderen Mitglieds-Organsationen in einem bestimmten Bundesland und werden dort auch als Mitglied gezählt. Wenn Einrichtungen in mehreren Bundesländern OTA-Projekte umsetzen, können sie sich in jedem dieser Bundesländer um eine eigene DVOTA-Mitgliedschaft bewerben und haben dann auch das entsprechende Stimmrecht. Nach dieser Festlegung und Zählweise hat der DVOTA derzeit 37 ordentliche und 6 außerordentliche Mitglieder.[10]

Im Gegensatz zur Vorstandstätigkeit sind die Organisation und die Verwaltung des Dachverbands sowie die Umsetzung von Projekten (z. B. die Tagung "Best-practice Modelle der Opferschutzorientierten Täterarbeit aus Europäischer Perspektive" im September 2022 in Wien) nicht ehrenamtlich möglich, sondern werden durch Förderungen des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz sowie durch das Bundeskanzleramt – Frauen ermöglicht.

Mit den zur Verfügung gestellten Mitteln und mit Mitgliedsbeiträgen kann ein kleines Projektteam finanziert werden, das die umfangreichen Tätigkeiten des DVOTA abwickelt.

Die selbstgesteckten Ziele werden daher in einem gewissen, aber eben auch eingeschränkten Umfang Schritt für Schritt bearbeitet:

  • Vernetzung zwischen Einrichtungen des Opferschutzes sowie der Täter-/Täterinnenarbeit in Österreich mit dem Ziel des gemeinsamen Austausches und der (Weiter-)Entwicklung der Kooperationsprojekte;
  • Weiterentwicklung von OTA-Ansätzen in weniger bekannten bzw. vernachlässigten Arbeitsfeldern, insbesonders OTA mit Gefährderinnen und Täterinnen, mit LGBTIQ+ und bei Gewalt zwischen Generationen;
  • Vernetzung auf internationaler Ebene;
  • Durchführung von Weiterbildungen für Fachpersonal;
  • Organisation von Fachtagungen und Publikationen;
  • Zertifizierung von Projekten und Weiterbildungsangeboten nach den OTA Standards.

Einbezug des Kinderschutzbereiches in den DVOTA

Ein wesentlicher Aspekt bei der Gründung des DVOTA bestand darin, dass – anders als in der Vorläuferstruktur BAG-OTA – der Kinderschutzbereich einbezogen und strukturell abgebildet werden sollte (vgl. oben).

Eine Dachorganisation, die im Bereich der Gewalt in der Familie umfassend tätig sein und die Opferschutz- und Täter-/Täterinnen-Arbeit auf allen Ebenen gut abbilden will, muss jene Einrichtungen miteinbeziehen, die auf die Kinderperspektive spezialisiert sind, denn bei vielen Gewalthandlungen sind Kinder die vorrangig und unmittelbar betroffenen Personen (körperliche, psychische, sexuelle Gewalt gegen Kinder, Gewalt in der Erziehung, Vernachlässigung etc.).

Aber auch in Fällen, in denen Kinder Zeug:innen der Gewalt zwischen den Eltern (meist: des Mannes gegen die Frau) werden, gibt es gute Gründe, Kinderschutz-Einrichtungen in die OTA-Kooperationsprojekte einzubeziehen.

In Abbildung 2[11] wird anhand der paradigmatischen Gewaltkonstellation "Mann ist gegen Frau physisch gewalttätig, Kind ist Zeuge/Zeugin" verdeutlicht, dass die Ebenen aller beteiligten Personen in komplexer Weise miteinander in Beziehung stehen und eine sowohl eigenständige als auch eine Ebenen-übergreifende Betrachtung notwendig sind, um adäquat intervenieren zu können. Diese Interventionen sollen durch Einrichtungen erfolgen, die auf die jeweilige Ebene spezialisiert sind, die aber auch koordiniert und abgestimmt vorgehen.

Grafik: Mehrebenen-Kreislaufmodell
Abbildung 2: Mehrebenen-Kreislaufmodell: Innerer Kreis (schwarz): Ebene des gewalttätigen Mannes. Mittlerer Kreis (rot): Ebene der gewaltbetroffenen Frau. Äußerer Kreis (blau): Ebene des Kindes, das Zeuge/Zeuging der Gewalt wird.

Die Handlungsweisen und emotionalen Reaktionen auf jeder Ebene sind typische und plausible Beispiele, wie sie in der Praxis vorkommen, die in einem bestimmten Fall aber auch ganz anders ausfallen könnten. Einige Elemente sind geläufiger und besser beschrieben (z. B. jene auf der Ebene des Mannes, die die Grundlage für Beratungsansätze und Programme in der Anti-Gewalt-Arbeit bilden; einige Elemente auf der Ebene der Frau bereits seit Walkers Modell), andere haben eher Hypothesen-Status und sind bisher noch nicht oder kaum in einen dynamischen Gesamtzusammenhang gebracht worden (insbesonders auf der Ebene der Kinder).

Ohne auf die (weitgehend selbsterklärenden) Details in Abbildung 2 allzu genau einzugehen, soll die dargestellte, mögliche Mehrebenen-Dynamik kurz erläutert werden:

Die Gewalthandlung gegen die Partnerin führt beim Mann kurzfristig zu Erleichterung und dem Gefühl, die Machtverhältnisse in der Beziehung wieder richtiggestellt zu haben, gefolgt von einem Erschrecken über die eigene Handlung und Schuldgefühlen, die der Mann loswerden möchte, indem er sich bei der Frau entschuldigt und Versöhnungsversuche startet.

Die Frau erlebt die Gewalttat vielleicht mit einem Gefühl der Ohnmacht, vielleicht verteidigt sie sich auch, vielleicht kommt es auch zu anderen Reaktionen wie Schmerz, Wut oder Verzweiflung.

Im dargestellten Beispiel zieht sie sich im Folgenden emotional zurück und reagiert vorläufig nicht auf die Entschuldigungen des Mannes. Irgendwann beginnt sie, seine Versöhnungsversuche aufzugreifen, da die Hoffnung auf Veränderung überwiegt.

Mann und Frau ergänzen sich nun gut im dargestellten Beispiel, indem sie eine gemeinsame Erzählung für die Gewaltsituation konstruieren: Er schiebt Verantwortung an sie ab, was ihn entlastet ("Du hast mich provoziert, deshalb habe ich zugeschlagen…"), und sie nimmt die Verantwortung an, was ihr eine Kontrollillusion vermittelt ("Ich habe ihn provoziert, deshalb hat er zugeschlagen. Hätte ich ihn nicht provoziert, hätte er nicht zugeschlagen…"), die für die Frau besser integrierbar ist als die Perspektive, der Gewalt des Mannes weitgehend ausgeliefert zu sein.

Dieses Zusammenspiel ist in Abbildung 2 durch Einkreisung gekennzeichnet.[12] Es folgt die bereits bei Walker beschriebene "Honeymoon"-Phase, gefolgt von der Wiederkehr des Alltags und dem gemeinsamen Schweigen über die Gewalthandlung. Alltägliche Stressoren erhöhen die Spannung beim Mann, Ärger- und Wutgefühle nehmen zu und können nicht kommuniziert werden. Schließlich genügt ein unbedeutender Auslöser für die nächste Gewalthandlung.

Die Partnerin nimmt die Spannung genauso wahr, sie reagiert auf die Zunahme von Ärger beim Mann beispielsweise mit Angst und versucht z. B., die Stimmungen des Mannes zu ergründen, sein Verhalten vorherzusagen und seine Gefühle durch Modulieren des eigenen Verhaltens zu regulieren,[13] was meist nicht gelingt.

Naheliegenderweise hat die beschriebene Gewaltdynamik Auswirkungen auf Kinder, die Zeug:innen der Gewalthandlung und der nachfolgenden Prozesse zwischen den erwachsenen Personen werden. In der Gewaltsituation selbst sind Gefühle der Angst oder Hilflosigkeit naheliegende emotionale Reaktionen. Besonders bei kleineren Kinder werden diese Gefühle sehr stark ausfallen, in einem Grad, den das Kind selbst nicht regulieren kann. Dazu bräuchte es eine erwachsene Bezugsperson – diese sind aber in der Gewaltsituation verstrickt, weswegen das Kind mit seinen Gefühlen und dem resultierenden Stress oft alleine bleibt bzw. Zuwendung nicht in jenem Ausmaß erfährt, das in dieser Situation notwendig wäre.

Beispiele für die möglichen Wirkungen der Gewaltdynamik zwischen Frau und Mann auf das Kind sind in Abbildung 2 wiederum durch Einkreisungen gekennzeichnet wobei nur 2 Beispiele herausgegriffen wurden:

Die Gewalthandlung selbst und der Punkt, an dem der Mann erschrickt und vielleicht erste Schuldgefühle äußert, die Frau sich emotional zurückzieht und das Kind mit seinen eigenen Gefühlen überfordert ist und beginnt, die Schuld für das Erlebte bei sich selbst zu suchen.

Diese Beispiele sollen genügen, um auf die Verwobenheit der Ebenen "Mann – Frau – Kind" hinzuweisen. Es lassen sich noch viele weitere und ganz andere Zusammenhänge konzipieren, weitaus komplexere in mittel- und langfristiger Perspektive. Hier sei betont, dass die Gewalthandlung des Mannes und die weiterführende Dynamik zwischen Mann und Frau beim Kind Überforderung und Stress auslöst, und zwar chronischen Stress im häufigen Fall einer zyklischen Dynamik. Chronischer Stress ist ein erheblicher Risikofaktor für dysfunktionale Entwicklungen verschiedenster Art.

Hafner und Hertel (2020)[14] haben einige Studien zusammengetragen, die sich mit akuten Symptomen (z.B. traumatische Symptome, erhöhtes Erregungsniveau, Angst, negatives Selbstbild, Bindungsprobleme) und späteren Auffälligkeiten (z. B. Angst, Depression, Alkoholabhängigkeit, Störungen des Sozialverhaltens, Gewalthandlungen) bei Kindern, die Gewalt in der Familie mit-/erlebt haben, beschäftigen.

Devaney und Lazenbatt (2017)[15] weisen in ihrer Übersichtsarbeit darauf hin, dass sich eine transgenerationale Weitergabe von Gewalt in der Familie nachweisen lässt, der Zusammenhang zwischen selbst erlebter oder miterlebter Gewalt als Kind und späterer Gewaltbetroffenheit oder Täterschaft aber nicht zwangsläufig ist, sondern es von verschiedenen moderierenden Variablen abhängt, ob dieser Effekt zum Tragen kommt oder nicht.

Als wichtigster moderierender Einfluss sind Einstellungen zu (familiärer) Gewalt zu betrachten, die die Kinder und Jugendlichen mit der Zeit entwickeln. Mit anderen Worten: Mittel- und langfristig kann es durch das wiederholte (Mit-)Erleben von familiärer Gewalt bei den Kindern zur Überzeugung kommen, dass Gewalt eine normale und übliche Interaktionsform in Paarbeziehungen darstellt, und die Rollen als Opfer oder Täter:in werden für das eigene Erwachsenenleben als Modell nahegelegt.

Solche destruktiven Lernprozesse sind dann umso wahrscheinlicher, je weniger korrigierende Einflüsse auf die betroffenen Kinder wirken.[16] Korrigierende Einflüsse, die den Kindern in gewaltbelasteten Familien signalisieren, dass es nicht richtig und nicht normal ist, was sie erleben, sind essentiell, um sie u. a. dabei zu unterstützen, sich selbst von Gewalt zu distanzieren, gewaltfreie Haltungen und Einstellungen zu entwickeln und sich selbst in ihrem späteren Leben als Beziehungspartner:innen jenseits der Opfer- oder Täter:innen-Rollen zu verorten, die sie in ihren Herkunftsfamilien gesehen haben.

Die professionelle und oft langfristige Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen durch spezialisierte Einrichtungen des Kinderschutzes kann u. a. an diesem Punkt eine eigenständige und zentrale präventive Rolle bei der Unterbrechung der Weitergabe von gewaltnormalisierenden Einstellungen, Haltungen und Beziehungsmustern von einer Generation an die nächste spielen, neben der unmittelbaren, professionellen Unterstützung der Kinder und Jugendlichen, um das Erlebte zu verarbeiten und Langzeitfolgen zu verhindern.

Vor diesem Hintergrund erschien es bei der Gründung des DVOTA dringend geboten, den Kinderschutzbereich zur Mitarbeit an OTA-Kooperationsprojekten einzuladen.

Referenzen und Literatur

[1] Scambor, C & Haydn, A. (2021). Opferschutzorientierte Täterarbeit: Rückblick und Ausblick.

[2] Council of Europe (2011). Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und erläuternder Bericht (Council of Europe Treaty Series - No 210). Im Artikel 16 wird weiter gefordert, "… dass diese Programme gegebenenfalls in enger Zusammenarbeit mit spezialisierten Hilfsdiensten für Opfer ausgearbeitet und umgesetzt werden."

[3] 0800 400 777, www.maennerinfo.at

[4] Bei der Zusammenarbeit von Gewaltschutzzentren und Beratungsstellen für Gewaltprävention (BGP) dürfte das Problem der Ungleichzeitigkeit durch die zeitlichen Vorgaben für die Gefährder:innen (Meldung bei der BGP innerhalb von 5 Tagen) etwas entschärft sein.

[5] Die Begriffe "Gewalt in der Familie", "Häusliche Gewalt", "Gewalt im sozialen Nahraum" etc. werden oft synonym verwendet. Für unser Verständnis vgl.: https://dv-ota.at/wp-content/uploads/2022/03/DV-OTAMindeststandards-2022-01-28.pdf. Für den vorliegenden Beitrag verwenden wir den Begriff "Gewalt in der Familie".

[6] Vgl. auch Brem, J., Lueger-Schuster, B., Kucera, C. & Webhofer, A. (2002). Opferschutz durch Rückfallsprävention. Das Wiener Sozialtherapeutische Programm für Sexualtäter. Wien: Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen. In diesem Leitfaden zur Täterarbeit bei sexueller Gewalt gegen Kinder wurden auch die Perspektiven von Justizanstalten, Bewährungshilfe und Kinderschutzzentren thematisiert. Das "Wiener Sozialtherapeutische Programm für Sexualtäter" setzte auf internationale Vorbilder und das Kooperationsparadigma.

[8] Dabei kann es sich um klar und einfach strukturierte Projekte, bestehend aus einer Opferschutz- und einer Täterarbeits-Einrichtung handeln, aber auch um komplexere Projekte mit mehreren Einrichtungen, wie z. B. das G.i.F.-Projekt in der Steiermark, vgl. Opferschutzorientierte Täterarbeit: Rückblick und Ausblick. Einrichtungen, die noch nicht in einem OTA-Kooperationsprojekt arbeiten, dies aber anstreben, haben die Möglichkeit, außerordentliche Mitglieder zu werden. Der DVOTA unterstützt diese Einrichtungen auf ihrem Weg zu einer ordentlichen Mitgliedschaft, d. h. zur Umsetzung von funktionierenden Kooperationsprojekten.

[9] Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 11, Soziales, Arbeit und Integration (Hrsg.) (2022). Gewaltschutzstrategie des Landes Steiermark. Graz: Hrsg (PDF).

[10] Zusätzlich liegen noch weitere Anträge auf Mitgliedschaften vor, die gegenwärtig bearbeitet werden.

[11] Vgl. Walker, L. E. (1979). The Battered Woman. New York: Harper Collins. Es handelt sich auf den Ebenen "Mann" und "Frau" um eine Ausdifferenzierung des "Cycle of Violence" von Leonore Walker (1979). Die Phasen in Walkers Kreislauf waren mit "Tensions Building", "Incident", "Reconciliation" und "Calm" betitelt. Walkers Modell inspirierte verschiedene spätere Modelle von zyklischen Gewaltdynamiken in Paarbeziehungen. Walker formulierte den Gewaltkreislauf für die Dynamik zwischen Frau und Mann; mit-/betroffene Kinder fanden in der Darstellung des "Cycle of Violence" noch keine Erwähnung.

[12] Als Beispiel – denn grundsätzlich könnten an vielen oder allen Punkten des Kreislaufes solche Einkreisungen erfolgen.

[13] Auch an diesem Punkt wird die Beispielhaftigkeit der beschriebenen Dynamik deutlich: Je nach Persönlichkeit wären auch völlig andere Reaktionen vorstellbar.

[14] Hafner, G. & Hertel, R. (2020). Kinder als Opfer häuslicher Gewalt. In A. Steingen (Hrsg.), Häusliche Gewalt. Handbuch der Täterarbeit (35-46). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

[15] Devaney, J. & Lazenbatt, A. (2017). Domestic Violence Perpetrators. London: Routledge.

[16] Die Resisilienforschung hat schon früh auf die wichtige Rolle von emotionalen Bezugspersonen als einen unter mehreren Schutzfaktoren hingewiesen, die dabei unterstützen, belastende Ereignisse, Situationen und Lebensphasen so zu verarbeiten, dass wenige oder keine Spätfolgen resultieren (vgl. Werner & Smith, 1982). Diese Bezugspersonen können von innerhalb oder außerhalb der Familie stammen. Therapeutische Beziehungen als Einflüsse von außerhalb der Familie unterstützen konstruktive Verarbeitungsprozesse des Erlebten bei den Kindern.
Werner, E.E. & Smith, R.S,. (1982). Vulnerable, But Invincible: A Longitudinal Study of Resilient Children and Youth. NY: McGraw-Hill.

Weiterführende Informationen