Frei sein und Verantwortung tragen – der personzentrierte Ansatz in der Gewaltberatung

Portrait Marcel Kerber

Im folgenden Beitrag plädiert Marcel Kerber für den personzentrierten Ansatz bei der Arbeit mit gewaltbereiten Personen und stellt dabei die diesbezügliche Nützlichkeit der Basisvariablen des Ansatzes vor. Als Grundlage dafür dienen ihm zwei Artikel von Rogers (1961) und Reinhardt (2015).

Der personzentrierte Ansatz hat erst relativ spät mit Beforschung und Evaluierung in Form von Wirksamkeitsstudien begonnen und kommt daher in der Gewaltarbeit bisher kaum vor.

Autor:  Mag. Marcel Kerber, Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision und Berater bei der Männerberatung Mannsbilder in Tirol, ist dort für mehrere gewaltpräventive Projekte in der Beratung von Männern und Burschen ab 12 Jahren zuständig.

Thema Mai 2023

Viele Männer, die den Weg in die Beratungsstelle der Mannsbilder finden, beschreiben Gefühle der Ohnmacht und Unfreiheit angesichts der oft sehr schwierigen Lebenslagen. Sei es nun bei Partnerschaftsthemen, Scheidungs- und Obsorgestreitigkeiten, beruflichen Schwierigkeiten, familiären oder psychischen Problemen, Delinquenz bis hin zu Gewalt, um einige zu nennen.

Dieses Gefühl der Unfreiheit kann so stark ausgeprägt sein, dass man weder ein noch aus weiß und eine Lösung schier unmöglich erscheint. Ich denke jede:r von uns kennt solche Momente im Leben. Liegt nun generell eine Neigung zu gewalttätigem Verhalten vor und wird Gewalt als Möglichkeit zur Lösung von Problemen angesehen, so stehen wir vor einer sehr gefährlichen Situation.

Was neben dem Verlust der Freiheit hinzu kommt, ist oft der Widerstand gegen die notwendige Verantwortungsübernahme. Was sind meine Anteile am Problem und was kann und will ich für eine Veränderung tun? Diese eigenen Anteile sind meist schwer zu entdecken und anzunehmen. Die Partner:in ist dann ausschließlich z. B. an der verfahrenen Situation in der Ehe Schuld, oder äußere Umstände sind generell so dominant und erdrückend, dass keinerlei Veränderung möglich ist. Viele Männer möchten die Last der Verantwortung an andere delegieren, was sie zusätzlich unfreier macht.

Freiheit wiederum kann aber nur durch Verantwortungsübernahme (wieder) entstehen und wachsen, die beiden bedingen sich gegenseitig.

Was bedeutet nun für mich Freiheit im beraterischen Prozess?

Ich bin bei meinen Überlegungen auf einen Artikel von Carl R. Rogers gestoßen. Er formuliert in seinem Aufsatz "Zu einer Theorie zur Kreativität" zwei Bedingungen, die die Wahrscheinlichkeit für eine konstruktive Kreativität am besten fördern: Psychische Sicherheit und Freiheit.

Mit Kreativität ist die Fähigkeit gemeint, etwas Neues zu erschaffen, in unserem Fall nun im Beratungsprozess. Er schreibt dazu:

"Wenn ein Lehrer, Elternteil, Therapeut oder ein anderer Mensch in fördernder Funktion dem Individuum völlige Freiheit des symbolischen Ausdrucks erlaubt, fördert er Kreativität. Diese Permissivität gibt dem Individuum völlige Freiheit, das, was es im Innersten seines selbst ist, zu denken, zu empfinden zu sein.... und das macht einen Teil der Kreativität aus." (Rogers 1973, S. 348)

Es geht dabei um Offenheit und spielerisches Jonglieren mit Wahrnehmungen, Begriffen und Bedeutungen. Es geht nicht darum, alle Gefühle und Impulse ungefiltert im Verhalten auszudrücken.

In dieser gesteigerten Kreativität liegt, verkürzt dargestellt, die Ermächtigung sich wieder ein Stück freier und gestaltender zu erleben (vergleiche Rogers 1973, S. 348), was gleichzeitig auch einen gewaltpräventiven Aspekt bedeutet. Ich muss weniger auf Gewalt zurückgreifen, wenn ich mich freier und kreativer erlebe.

Unabdingbar ist, dass in der Beratung ein sicherer Raum entstehen muss, in dem alles erlaubt ist, gedacht und auch gesagt zu werden. Für die Sicherheit dazu braucht es laut Rogers drei miteinander verbundene Prozesse:

1. Den Klienten als bedingungslos wertvoll akzeptieren

"Immer wenn ein Lehrer, ein Elternteil, ein Therapeut oder ein anderer Mensch in fördernder Funktion recht eigentlich spürt, dass dieses Individuum kraft eigenem Recht und eigener Entfaltung Achtung verdient, gleichgültig wie sein gegenwärtiger Zustand oder seine Verhaltensweise im Augenblick sein mag, fördert dieser Mensch Kreativität." (Rogers 1973, S. 347)

Dies bedeutet auch, dass ich als Berater die Möglichkeiten des Klienten ahne und einen bedingungslosen Glauben daran haben muss. Zugegebenerweise ein sehr hoher, aber in diesem Zusammenhang alternativloser Anspruch. So lernt der Klient allmählich, dass er ohne Scham und Fassade, das was immer er auch ist, sein kann. Er kann so entdecken, was es heißt, er selbst zu sein und zu neuer Kreativität und Freiheit gelangen.

2. Ein Klima anbieten, in dem keine Wertsetzung von außen erfolgt

"Wenn wir aufhören, Urteile über den anderen Menschen von unserem eigenen Wertungszentrum aus zu fällen, fördern wir Kreativität." (Rogers 1973, S. 347)

Eine Bewertung ist immer auch eine Bedrohung und schafft immer die Notwendigkeit einer Abwehrhaltung, ein Teil der Erfahrung muss dem Bewusstsein vorenthalten werden. Wenn keine Urteile gefällt werden, dann kann ich für meine Erfahrung offener sein, dann kann ich meine eigenen Zu- und Abneigungen schärfer und sensibler erkennen. Und werde dadurch kreativer und freier.

Wichtig für mich als Berater ist dabei, den eigenen Resonanzen gewahr zu werden und kongruent Rückmeldungen in Form von klarer und wertschätzender Konfrontation zu geben. In der Arbeit mit gewaltbereiten Menschen braucht es klare Grenzen, ausreichend Struktur und die klare Haltung, dass ich das gewalttätige Verhalten nicht billige. Ich muss dabei aber strikt zwischen der Person und ihrem Verhalten trennen können.

Wenn ich aufhöre einen anderen zu bewerten, werde ich möglicherweise sogar für ein Reagieren freier. „Ich mag Ihre Idee nicht" ist laut Rogers keine Wertung, sondern eine Reaktion, da der Klient seine eigene Bewertungsinstanz beibehalten kann. (Mit innerer Bewertungsinstanz ist gemeint, dass die Quelle oder der Ort des wertenden Urteils im Inneren der Person liegt.) Eine subtile, aber scharfe Unterscheidung zu einem Urteil wie "Was Sie tun ist schlecht (oder gut)."

3. Empathisch verstehen

"... wenn ich Sie jedoch empathisch verstehe, Sie und das was, Sie empfinden und tun, von Ihrem Standpunkt her sehe, in Ihre private Welt eintrete und sie so sehe, wie sie Ihnen erscheint: wenn ich das tue, und Sie dennoch akzeptiere, dann handelt es sich in der Tat um Sicherheit." (Rogers 1973, S. 348)

Dem Klient nur zu sagen, dass ich ihn "akzeptiere", von ihm aber nichts weiß, dann handelt es sich um ein oberflächliches Akzeptieren, das keine Sicherheit schafft.

In dem akzeptierenden Klima hingegen kann das wirkliche Selbst hervortreten und sich in seiner Beziehung zur Welt in verschiedenen und neuartigen Formen zum Ausdruck bringen. Hier haben wir eine grundlegende Förderung der Kreativität.

Freiheit im beraterischen Prozess

Wenn wir nochmals auf die Freiheit (auch in der Beratung) zurückkommen, so geht es um die Erlaubnis, frei zu sein, was gleichzeitig heißt: Verantwortung zu tragen. Der Mensch ist frei, die Konsequenzen seiner Fehler wie auch seiner Leistungen zu tragen. Es ist diese verantwortungsvolle Freiheit, sein selbst zu sein und die inneren Voraussetzungen konstruktiver Kreativität zu schaffen (vergleiche Rogers 1973, S. 349).

Wenn ich die Überlegungen von Rogers nun in die Gewaltberatung der Gegenwart transferiere, so spielt der personzentrierte Ansatz in der Beratung von gewaltbereiten Männern für mich eine der größten Rollen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen Artikel von Julia Reinhardt von der Täterarbeitseinrichtung "Contra häusliche Gewalt" in Deutschland aufmerksam machen (2015).

Allein durch die Grundhaltung der Akzeptanz, Empathie und vor allem der Kongruenz gewinnt der*die Berater*in bereits im Erstgespräch das Vertrauen der Klienten und sie sprechen sehr offen über ihre Taten. Dies deckt sich auch mit meinen Erfahrungen, anfangs wirken die Klienten oft sehr unsicher und beschämt, sie werden aber, unterstützt auch von meiner Grundhaltung, sehr schnell offen in Bezug auf ihre Taten.

Aber auch wenn jemand nicht offen ist, so sind das Schutz- und Abwehrmechanismen, für die der Klient seine guten Gründe hat. Es ist dabei wichtig "ihn einfach "sein" zu lassen und lediglich meine Wahrnehmungen ihm gegenüber zu äußern." (Reinhardt 2015, S. 209).

Gerade bei diesen Menschen kann es dann sein, dass sie – womöglich das erste Mal in ihrem Leben – die Erfahrung machen, dass sie so wie sie sind gehört, gesehen und wahrgenommen werden. Und das ist für alle Menschen wichtig und wertvoll, egal ob Täter oder nicht.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang das Prinzip einer – wenigstens gewissen – Freiwilligkeit. Langfristige Verhaltensänderungen können nur aus dem Menschen selbst heraus geschehen. Ich erlebe oft, dass viele Klienten mit der Zeit gerne und verlässlich kommen, auch wenn sie eine Auflage dazu haben. Es entwickelt sich eine stabile Arbeitsbeziehung auf deren Grundlage in Form einer ehrlichen und echten Auseinandersetzung an der Gewaltproblematik gearbeitet werden kann.

Für Reinhardt schließen sich der PZA und der konfrontative Ansatz der Täterarbeit überhaupt nicht aus: "Verstehen ohne Verständnis zu haben und dies auch in meiner ganzen Haltung zum Ausdruck zu bringen finde ich gerade in meiner Arbeit unabdingbar." (2015, S. 209).

Auch ich bringe keinerlei Verständnis für die Anwendung von Gewalt auf und verurteile diese ganz klar und konfrontativ. Gleichzeitig geht es darum nachvollziehen zu können warum gerade dieser Mensch, der mir gegenüber sitzt, gewalttätig wurde. Es geht um Erklärung des Verhaltens und nicht um Rechtfertigung, womit viele Täter argumentieren.

Reinhardt nennt dies Neutralisierungstechniken der Klienten. Indem sie kongruent mit ihrer inneren Wahrnehmung bleibt und diese Neutralisierungstechniken als solche benennt und trotzdem empathisch mit den Klienten bleibt wird aus der Rechtfertigung ein Verstehen und Begreifen. Und nur wenn Verständnis da ist, kann an einer Veränderung gearbeitet werden. Neutralisierungstechniken lassen kein Verstehen zu.

Abschließend möchte ich auf das Potential des personzentrierten Ansatzes in der Gewaltarbeit hinweisen. Ich hoffe, dass die diesbezügliche Forschung vorangetrieben und die Effektivität – ähnlich wie bei lerntheoretischen Konzepten – dementsprechend bald und fundiert empirisch nachgewiesen werden kann.

Literatur

  • [1] Rogers, C.: Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659., 1973
  • [2] Reinhardt, J.: Den Gewaltkreislauf durchbrechen In: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, Schwerpunkt: Prävention, 4/15, 206-211., 2015