Das Pro Senectute Beratungstelefon für Gewalt und Alter

Seit rund 10 Jahren bietet das Pro Senectute Beratungstelefon für Gewalt und Alter österreichweit anonyme und kostenlose Beratungsgespräche an. Von Gewalt Betroffene und Bedrohte suchen ebenso Rat wie deren Angehörige bzw. Menschen aus dem nahen Umfeld und professionelle Mitarbeiter:innen der Betreuung oder Pflege von alten Menschen. In welchen Formen tritt Gewalt im Alter auf und welche Motive bewegen die Betroffenen zu einem Anruf? Welche Entwicklungen sind im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen wie Pflegenotstand, Pandemie und Sozialabbau zu beobachten und welche Forderungen ergeben sich daraus? Im folgenden Beitrag wird aus der Sicht des Pro Senectute Beratungstelefons über Erfahrungen und Perspektiven berichtet.

Autorin: Bettina Bogner-Lipp, MA, Gerontologin, langjährige Tätigkeit in einem Seniorenzentrum, insbesondere in der Betreuung von Menschen mit Demenz, Unterrichtstätigkeit an einer Schule für Sozialbetreuungsberufe, Vortragstätigkeit, ist bei Pro Senectute im Segment Gewalt gegen Ältere tätig und betreut dort u. a. das Beratungstelefon für Gewalt und Alter

Thema September 2022

HinweisHinweis

Pro Senectute Beratungstelefon für Gewalt und Alter  0699 11 2000 99 
österreichweit anonyme und kostenlose Beratungsgespräche

Pro Senectute ist ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein. Er vereint Personen, die in der Altenarbeit engagiert sind oder ein Interesse daran haben, sich für die Lebensqualität alter Menschen und ihres Umfelds einzusetzen, insbesondere im Bereich Gewalt gegen ältere Menschen. Neben auf Anfrage durchführbaren Workshopreihen, Vorträgen, Informationsveranstaltungen und Ausbildungsmodulen für Schulen für Sozialbetreuungsberufe bildet das Beratungstelefon seit 10 Jahren die Säule des Engagements gegen Gewalt gegen Ältere.

In vertraulichen Beratungsgesprächen wird ohne Zeitdruck die Möglichkeit einer Aussprache geboten. Nach einem Clearing erfolgt im Bedarfsfall die Weiterleitung an regionale Anlaufstellen und eine psychosoziale Begleitung über kritische Zeiträume via Telefon.

Durch die niederschwellige Erreichbarkeit und die empathische Begleitung von Betroffenen in altersspezifischen Gewaltsituationen wird eine Entstigmatisierung und Enttabuisierung von Gewalt mit starkem Präventionscharakter erreicht. In den meisten Fällen wird der häufig immense Leidensdruck durch die mit den Anrufenden gemeinsam erarbeiteten Entlastungs- bzw. Lösungsangebote unmittelbar gemildert und werden (weitere) drohende Eskalationen verhindert.

Im Zuge einer Einschätzung der Gefahrenlage werden von Pro Senectute in seltenen Fällen auch Behörden, Polizei und soziale Organisationen konsultiert bzw. involviert.

Rahmenbedingungen und Erreichbarkeit des Beratungstelefons

Weitgehend abhängig von Fördermitteln des Bundes, waren die Rahmenbedingungen des Pro Senectute Beratungstelefons während der letzten zehn Jahre uneinheitlich. Durststrecken wurden mit viel persönlichem Engagement überbrückt.

Seit Anfang 2020 bilden Bettina Bogner-Lipp und Leopold Ginner das Team des Beratungstelefons und arbeiten an einer zunehmenden Professionalisierung und Ausweitung der Erreichbarkeitszeiten, der Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit.

Derzeit ist das Beratungstelefon 30 Stunden pro Woche erreichbar. Außerhalb der Beratungsstunden wird auf Wunsch ein Rückruf angeboten. In den letzten zweieinhalb Jahren wurden an die 600 Beratungsgespräche durchgeführt, davon weist ein beträchtlicher Teil eine Gesprächsdauer von bis zu einer Stunde oder länger auf.

In der nächsten Förderperiode werden die Telefonzeiten nahezu verdoppelt und ist die Etablierung der Pro Senectute Telefonnummer als erste Beratungsinstanz im Segment Gewalt gegen Ältere oberstes Ziel.

Gewaltaspekte

Die vorwiegenden Gewaltaspekte der beim Beratungstelefon vorgebrachten Anliegen betreffen emotionale, soziale sowie finanzielle Gewalt im häuslichen Bereich. Dem von den meisten Anrufer:innen geschilderten Klima von Gewalt liegen oft seit Jahrzehnten belastete eheliche Beziehungen, Schieflagen in der Wahrnehmung der Verantwortung für Pflegebedürftige, Abhängigkeitsverhältnisse finanzieller und emotionaler Art, Streit unter Geschwistern, zu Lebzeiten ausgetragene Erbschaftskonflikte und überfordernde Pflegesituationen zugrunde.

Eine Zuspitzung erfährt die bestehende Problematik in vielen Fällen durch die Faktoren Einsamkeit, Demenz und gerontopsychiatrische Hintergründe. Weiters brachten die Angst und Isolation fördernden Aspekte der Corona-Pandemie teils seit langem schwelende Konflikte zutage. Eine klare Opfer/Täterzuschreibung ist weder das vorrangige Ziel der telefonischen Gewaltberatung, noch in den meisten Fällen möglich.

Erfahrungen im Zuge der telefonischen Beratungstätigkeit

Gemeinsam ist den anrufenden alten Menschen, dass sie ihre Position im innerfamiliären wie im gesellschaftlichen Kontext als deutlich schwächer bzw. diskriminiert wahrnehmen. Die Angst, nicht ernst genommen zu werden und durch ein Aufbegehren gegen empfundene Missstände letztlich selbst Schaden zu erleiden, ist begleitet von einem Gefühl der Ohnmacht und Wertlosigkeit.

Das auch für Randthemen aller Art offen gehaltene, niederschwellig erreichbare Beratungstelefon definiert sich als erste Anlaufstelle – schon bei scheinbar geringfügigen Anlässen, die persönliches Missbehagen im Zusammenhang mit möglicher Gewalt verursachen.

Trotzdem berichten die meist weiblichen Rat- und Hilfesuchenden über schon langjährig bestehende, erduldete Leidenszustände, ehe sie überbordende Angst oder ein ausnehmend bedrohliches Ereignis zu einem ersten Anruf bewegt.

Die einfühlsame, wertschätzende und oft zeitintensive Erfassung der Problemlage unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven, die Information über rechtliche Möglichkeiten, die Aktivierung der vorhandenen Ressourcen und das Angebot von weiterführenden regionalen Entlastungs- oder Interventionsmöglichkeiten führt in vielen Fällen bereits beim Erstgespräch zu deutlicher Erleichterung.

Die Betroffenen gehen gestärkt in ihrer Handlungsfähigkeit und mit einem Plan über die nächsten Schritte aus dem Gespräch. Die am häufigsten gehörte Rückmeldung ist ein Dank dafür, dass sich die Anrufer:innen wirklich gehört und verstanden gefühlt haben und nun wieder weiter wissen.

Einen Lernprozess stellte für das Team des Beratungstelefons der Umstand dar, dass sich Gewalt gegen Ältere in Graubereichen vollzieht, die für rasche und vollständige Lösungen häufig unzugänglich bleiben.

Beweisbare kriminelle Tatbestände liegen weit seltener vor als empfundene Diskriminierungen, Gefühle der Angst, Ausgrenzung, vage Bedrohung, atmosphärische Belastung oder unklaren Verdächtigung. Somit zählt eine längerfristige psychosoziale Begleitung in Mehrfachkontakten zum täglichen Repertoire des Beratungstelefons.

Schwierige Konstellationen werden ein Stück weit mitgetragen und die Betroffenen während krisenhafter Zeiten in ihren einzelnen Schritten aus der Gewalt nicht allein gelassen.

Probleme und Barrieren bei der Beratungstätigkeit

Während der 10 Jahre, seit das Pro Senectute Beratungstelefon ins Leben gerufen wurde, haben sich die Anrufe vervielfacht und die Thematik erfährt auch dank zahlreicher anderer Initiativen gegen die Gewalt durch verschiedene Institutionen zunehmend gesellschaftliche und mediale Beachtung.

Nichtsdestotrotz lässt die Analyse der Gesprächsanlässe und -inhalte darauf schließen, dass die Dunkelziffer von Gewaltvorkommnissen – vor allem im häuslichen Bereich – enorm ist. Gewalt wird oft mit Körperverletzung und einer unmittelbaren und klaren Schuldzuweisung assoziiert, während die Praxis des Beratungstelefons zeigt, dass eine psychosoziale und praktische Unterstützung in den meisten Fällen allen Beteiligten Entlastung bringt und sich die Opfer/Täter-Frage als gegenstandslos erweist.

Neben Scham und Angst sind es nach wie vor Unsicherheiten bzw. Unkenntnis über die Frage, wo Gewalt beginnt, die Menschen lange zögern lassen, ehe sie sich an eine Beratungsstelle wenden. Dass es "schon Gewalt" ist, wenn beispielsweise Telefonnummern aus dem Verzeichnis gelöscht oder Besuche ferngehalten werden, wenn vereinbarte Hilfe – zum Beispiel im Gegenzug zur Überschreibung eines Hauses – unterlassen wird, wenn die finanziellen Angelegenheiten gegen den eigenen Willen entzogen werden, wenn mit dem Einzug in ein Pflegeheim gedroht wird, wenn in wohlmeinender Absicht Speisen aufgezwungen und andere vorenthalten werden, wenn körperliche Unterstützung grob durchgeführt wird etc., ist den wenigsten bewusst.

Besondere Aspekte der Gewalt im Alter

Nicht unbeträchtlich ist das Segment der Anrufer:innen, die einen gerontopsychiatrischen Hintergrund vermuten lassen und die durch erhöhte Vulnerabilität und mangelnde Kooperationsfähigkeit besonders gefährdet sind, schutzlos in Gewaltsituationen unterzugehen. Das Team des Beratungstelefons begegnet diesen Menschen mit hoher Akzeptanz, geschulten Kommunikationsmethoden und der Bereitschaft zu langfristiger telefonischer Unterstützung.

Ein weiteres häufiges Motiv bei den Krisengesprächen am Beratungstelefon ist die Überforderung von meist mehrfachbelasteten pflegenden Angehörigen, insbesondere bei Persönlichkeitsveränderungen von Familienmitgliedern im Zusammenhang mit Demenz.

Es liegt Pro Senectute viel daran, immer wieder darauf hinzuweisen, dass eine hundertprozentige Vermeidung von Gewalt unmöglich und vielmehr der Umgang mit Fehlverhalten entscheidend ist. Pro Senectute bestärkt die Anrufer:innen mit eindeutigen Definitionen von Gewalt, konkreten regionalen Hilfsangeboten und klaren Handlungsempfehlungen. Das Reden über Gewalt im geschützten Raum des Beratungstelefons ist ein entscheidender Schritt und bringt Dynamik in festgefahrene Situationen.

Neben problematischen häuslichen und persönlichen Gewaltkonstellationen bewirkt die Verteuerung von Energie, Wohnkosten und Lebensmitteln bei gleichzeitig ansteigendem Pensionsalter und nicht adäquat angepassten Monatseinkommen ein Klima von sozialer Kälte, welches wiederum Einsamkeit und Armut unter der älteren Bevölkerung zunehmen lässt.

Diese Form von struktureller Gewalt wirkt sich – mit und ohne Coronapandemie – in einer Vernachlässigung kultureller Teilhabeangebote aus, die jedoch unter Berufung auf die Menschenrechte im Zentrum einer zufriedenen, friedlichen und solidarischen Gesellschaft stehen sollten.

Datenschutz und multiinstitutionelle Zusammenarbeit

Eine nicht zu unterschätzende Hürde beim Bearbeiten der Problemstellungen am Beratungstelefon ist der Datenschutz, der einer multiinstitutionellen Zusammenarbeit von Beratungsinstitutionen, sozialen Organisationen, medizinischen und betreuerischen Einrichtungen sowie der Exekutive oftmals im Wege steht.

Mit dem EU-Projekt MARVOW (multiinstitutionelle Zusammenarbeit gegen Gewalt gegen ältere Frauen) wurde unter der Teilnahme von Pro Senectute über einen Zeitraum von mehreren Jahren an einer Plattform für multiinstitutionelle Fallbesprechungen gearbeitet. Die gesetzlichen Rahmenstellungen dafür sind jedoch noch nicht ausreichend gegeben.

Auch in der Plattform gegen Gewalt in der Familie wird ein regelmäßiger intensiver Austausch über die möglichen Vorgehensweisen beim Aufkommen von Gewalt im Alter gepflegt.

Eine positive Entwicklung stellen die so genannten "Grätzlpolizist:innen" und die "Community Nurses" dar, die neben ihrer angestammten Profession auch sozialarbeiterische Kompetenzen aufweisen. Die von diesen Berufsgruppen geleistete Präventionsarbeit sollte unbedingt ausgeweitet werden.

Forderungen und Perspektiven

Aus der Kenntnis vieler hunderter Gewaltvorkommnisse gegen Ältere wie auch von Älteren ausgehend, ergeben sich folgende Vorschläge bzw. Forderungen:

  • eine mit dem Beratungstelefon vernetzte, bundesländereinheitliche, aufsuchende Sozialbetreuung ohne bürokratische Hürden mit der Qualifikation, familieninterne Mediationen durchzuführen und eine Schnittstellentätigkeit bei der Organisation von Pflege und Betreuung einzunehmen;
  • eine breite Wiederaufnahme und Weiterentwicklung der pandemiebedingt sehr reduzierten kulturellen Teilhabe für alte Menschen, insbesondere Menschen mit Demenz als Präventionsmaßnahme und Entlastung für pflegende Angehörige;
  • Ausbau der Täter:innen-Arbeit mit besonderem Hinblick auf psychosozial betreute Aufenthaltsorte für Täter:innen während einer erfolgten Wegweisung;
  • eine weitere Vision von Pro Senectute ist die Einrichtung von Zufluchtsorten für gewaltbedrohte ältere und alte Menschen an neutralen Orten mit bedarfsweiser pflegerischer und psychosozialer Begleitung in jedem Bezirk;
  • Schulungen für Professionalist:innen, Ausbildungsmodule in Schulen und in verschiedenen Berufsgruppen, die Berührungspunkte mit alten Menschen aufweisen, niederschwellige Sensibilisierungsarbeit für alle Interessierten.

Die Anzahl der Anrufe hat sich während der letzten zwei Jahre in Halbjahresschritten jeweils verdoppelt. Maßgeblich dafür ist das beständige Bekanntmachen der Beratungstelefonnummer durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit.

Da das Pro Senectute Beratungstelefon weitgehend von Fördermitteln des Bundes abhängig ist und im Zuge dessen eine zu Lasten der Gewaltbetroffenen gehende Abhängigkeit von jeweiligen politischen Tendenzen besteht, ist eine dauerhafte Etablierung des Beratungstelefons für Gewalt und Alter mehr als wünschenswert.

Der Ausbau der Erreichbarkeitszeiten, der Aufklärungs- und Schulungsarbeit, der Netzwerktätigkeit und multiinstitutionellen Zusammenarbeit benötigt weitsichtige Planbarkeit und ist nur durch ausreichende Budgetierung möglich.

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