Selbstbestimmung und Demenz – ein Widerspruch?

Christina Pletzer und Peter Wißmann analysieren in ihrer Expertenstimme die Thematik Selbstbestimmung und Demenz. Die Begriffe Demenz und Selbstbestimmung erscheinen im ersten Moment nicht wirklich miteinander vereinbar. Geht man von der althergebrachten Meinung aus, dass eine Demenzerkrankung gleichzeitig auch mit dem völligen Verlust der Selbstbestimmung einhergeht, dann mag diese Annahme zutreffen. Und dann ist das Risiko auch hoch, dass allzu oft bereits zu einer frühen Phase demenzieller Veränderungen das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen unter die Räder kommt. Jedoch ist die Annahme des völligen Verlustes der Selbstbestimmungsfähigkeit falsch.

Autorin und Autor: MMag.a Christina Pletzer, ist Klinische- und Gesundheitspsychologin in freier Praxis und arbeitet im Demenz Servicezentrum der Caritas Tirol; Peter Wißmann ist Geschäftsführer der Demenz Support Stuttgart gGmbH sowie Herausgeber von demenz.DAS MAGAZIN

Thema Februar 2020

Selbstbestimmung ist graduell

Zum Verständnis dieser Aussage kann vielleicht das Modell der graduellen Selbstbestimmung beitragen, das von dem Psychologen Michael Wunder formuliert wurde. Die Fähigkeit selbstbestimmt zu handeln, ist im Lebensverlauf unterschiedlich ausgeprägt. In der Entwicklung vom Kind über einen Jugendlichen bis hin zur erwachsenen Person dürfte dies im Normalfall in Richtung auf eine Erweiterung der Selbstbestimmungsfähigkeit verlaufen.

Spezielle Lebenssituationen, zu denen auch eine demenzielle Entwicklung zählt, können diese Entwicklungsrichtung durchaus umkehren. Jedoch nicht von voll zu null, sondern nur von mehr zu weniger. Weniger Selbstbestimmungskompetenz ist aber nicht gleichbedeutend mit keiner Selbstbestimmungskompetenz!

Ein so genannter Demenz-Frühbetroffener kann viel mehr über seine Angelegenheiten urteilen und entscheiden, als ihm die Umwelt in der Regel zutraut. Sein Problem ist, dass ein in dieser Hinsicht nach wie vor defizitäres Demenzbild zu einer völlig unangebrachten und tragischen Einschränkung seines Selbstbestimmungsrechts in der Praxis führt. Zum Beispiel, indem man ihm plötzlich die Entscheidung über die Tageskleidung ungefragt abnimmt oder unbewusst beginnt, in alltäglichen Situationen für ihn zu sprechen. Bei anstehenden Entscheidungen werden die Betroffenen häufig immer weniger beziehungsweise gar nicht mehr mit einbezogen. Das geschieht kaum jemals mit böser Absicht und erfolgt meistens auch unbewusst.

Bei Angehörigen steht fast immer das durchaus redliche Motiv fürsorglichen Handelns im Hintergrund. Doch man muss eben auch aussprechen, dass es in seiner Konsequenz auf Kosten des geliebten Familienmitglieds geht und nicht legitimiert werden kann.

Selbstbestimmung geht immer!

Selbst wenn Fähigkeiten verloren gehen, die einfachsten Aufgaben nicht mehr möglich sind, wenn es dazu kommt, dass im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung nicht mehr selbstständig Nahrung aufgenommen werden kann,

"so findet der Geist Mittel und Wege, sich im Lauf des Demenzprozesses bis zum Ende der Reise und oft noch darüber hinaus zu offenbaren" (Lipinska).

"Die erlebte Biografie gestaltet sich weiter fort und das aktuelle Erleben im jetzigen Moment wird bedeutsam. Das Selbst existiert trotz einer weit fortgeschrittenen Demenz weiter, auch wenn es keine Möglichkeit des Ausdrucks mehr fände" (Kruse).

Neben den kognitiven Fähigkeiten verfügt der Mensch auch noch über viele andere Qualitäten und Kompetenzen, die selbst bei einer weit fortgeschrittenen Demenz in eingeschränkter Form noch vorhanden sind. Die Aufgabe der Angehörigen ist es, diese Fähigkeiten zu erkennen und kreative Wege zu finden, damit Betroffene diese auch zum Ausdruck bringen können.

Auch wenn die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung im Verlauf der Demenzerkrankung abnehmen, bleibt das Selbst des betroffenen Menschen erhalten. Die Aufgabe der Gesellschaft ist es, der jeweils noch möglichen Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz, so individuell unterschiedlich diese auch sein mag, Raum und Ausdrucksmöglichkeit zu geben.

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen untermauern diese Erkenntnisse. Selbst Menschen mit einer fortgeschrittenen demenziellen Erkrankung sind zu individuellem Erleben und sensibler sozialer Wahrnehmung fähig und haben persönliche Wünsche (Hirsch et al., 2012). Gelingt es An- und Zugehörigen von Demenzbetroffenen die noch vorhandenen Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu wahren, führt dies nachweislich zu einer verbesserten Lebensqualität für beide Seiten und kann einer negativen "Demenzspirale" entgegenwirken (ebd.).

Das "Nicht-Können" des Anderen aushalten

Selbstständigkeit bedeutet, ein unabhängiges Leben zu führen, ohne auf die Hilfen anderer angewiesen zu sein oder aber, im Fall von Einschränkungen, die Unterstützung in dem Maß anzunehmen, dass ein selbstständiges Leben für die Person in den für sie wichtigen Lebensbereichen möglich ist. Dabei stellt sich aus Sicht der Angehörigen die Frage, inwieweit sie den Betroffenen auch das Recht auf Risiko eingestehen. Welcher Preis wird für die vermeintliche Sicherheit gezahlt, die geboten wird? Wird manchmal vielleicht zu viel getan, um das "Nicht-Können" des Anderen nicht aushalten zu müssen, um mit der Ohnmacht nicht konfrontiert werden zu müssen?

"In dem demenzkranken Menschen zeigt sich uns dann nicht nur ein von einer bestimmten Krankheit betroffener, anderer Mensch, sondern in diesem begegnen wir immer mehr uns selbst in unserer eigenen Verletzlichkeit, Vergänglichkeit, Endlichkeit." (Kruse)

Diese Fragen erfordern eine regelmäßige Selbstreflexion, vor allem dahingehend, dass die noch vorhandenen Ressourcen des Partners für ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben entsprechend anerkannt und gefördert werden.

Menschen mit Demenz spüren selbst im späten Verlauf der Erkrankung sehr genau und differenziert, mit welcher Haltung ihnen nahestehende Bezugspersonen begegnen. Ein liebenswerter und wertschätzender Partner, der die noch vorhandenen Ressourcen fördert und stärkt, löst auch im Gegenüber das Gefühl von Bedeutsamkeit aus.

Selbstbestimmung als Bewusstseinsaufgabe

Kein Mensch, hier: kein Mensch mit kognitiver Behinderung, verliert also jemals sein Selbstbestimmungsrecht und seine Selbstbestimmungskompetenz. Diese sind zwar einem kontinuierlichen Veränderungsprozess unterworfen, müssen aber immer vorausgesetzt und berücksichtigt werden.

Das erfordert von Dritten – insbesondere von Angehörigen und professionellen Helfern - einen sehr bewussten Auseinandersetzungsprozess und ein waches Bewusstsein. Dabei beeinflusst unser Umgang mit diesen Fragen bei älteren Menschen und bei so genannten demenziell Frühbetroffenen unser Verhalten gegenüber Personen mit hohem Abhängigkeitsstatus. Ein solches Bewusstsein herauszubilden, benötigt die kritische Diskussion, zu der dieser Text einen kleinen Beitrag leisten möchte.

Literatur

  • [1] Michael Wunder: Demenz und Selbstbestimmung In: Ethik in der Medizin 1-2008, S. 17-24, Springer, 2008