Sind negative Altersstereotype Gewalt gegen Ältere? Beobachtungen und Befunde aus der COVID-19-Krise

Der Artikel geht der Frage nach, welche vielschichtigen psychosozialen Herausforderungen die COVID-19 Pandemie für Ältere Personen gebracht hat. 
Kurzfassung des Beitrags auf dem Vernetzungstreffen "Diskriminierung von Personen 50+ und damit im Zusammenhang Gewalt gegen ältere Frauen/Männer", St. Virgil, Salzburg, 14.10.2021

Autor: Prof. Dr. Hans-Werner Wahl, Universität Heidelberg

Thema November 2021

Hintergrund

Die COVID-19 Pandemie und die durch sie bedingten Lockdown-Maßnahmen haben bei vielen zu einem verringerten Wohlbefinden und einem erhöhten Einsamkeitserleben geführt, und das gilt für alle Altersgruppen (Wettstein & Wahl, 2021). Vor allem in Bezug auf Ältere werden die Bilder der in großem Stil Leichen abtransportierenden Militärlastwagen aus der Region Bergamo im März 2020 wohl lange Zeit in unser aller, aber nicht zuletzt auch im kollektiven Gedächtnis älterer Menschen eingebrannt bleiben.

Bergamo, Foto von Emanuele di Terlizzi (via EPA), 18.3.2020

Andererseits wurde immer wieder argumentiert, dass wir aus der Krise in Bezug auf ältere Menschen in unserer Gesellschaft auch Wichtiges lernen. Sind eventuell ältere Menschen so mit der Krise umgegangen, dass wir insgesamt auch die Kompetenzen der Älteren prägnanter sehen konnten, und nicht nur deren oft unterstellte "Defizite".

Ferner hat gerade die COVID-19 Pandemie gezeigt, dass Stereotypisierungen und Diskriminierung alter Menschen keineswegs nur ein Seitenthema sind und sehr schnell gewissermaßen zu einem "Vollbild" anwachsen können – so unter den Bedingungen der COVID-19 Krise und ihren Herausforderungen für das Gesundheitssystem und unterschiedliche Altersgruppen (Ayalon et al., 2021).

"Ageism", also Altersdiskriminierung, kann durchaus als eine Form einer weit ausstrahlenden Gewaltanwendung gegenüber einer großen Gruppe unserer Gesellschaft gesehen werden (Österreich derzeit rund 1,7 Millionen Menschen [19 %] über 65 Jahre; Deutschland derzeit rund 18 Millionen Menschen [22 %] über 65 Jahre).

Altersdiskriminierung geht beispielsweise einher mit geringerem Zugang zu wichtigen Ressourcen (z. B. Gesundheitsversorgung), und sie kann in das eigene Leben als Selbstwertverlust, Disengagement und viel zu frühzeitiger Aufgabe von wichtigen Lebenszielen eingreifen ("Ich bin ja als alter Mensch nichts wert in unserer Gesellschaft"). So ist es nicht verwunderlich, dass in der internationalen Forschung zu "Ageism" robuste Befunde vorliegen, die auf gesundheitliche, psychische und soziale Beeinträchtigungen als Folge von Altersdiskriminierung hinweisen (Levy et al., 2020; Wurm et al., 2017).

Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die existierende Datenlage zu den psychosozialen Folgen der COVID-19 Pandemie für ältere Menschen vielschichtig ist; sie darf nicht über einen "Corona-Kamm" geschert werden, etwa im Sinne "Ältere Menschen waren den größten Belastungen ausgesetzt und haben die schlimmsten psychosozialen Folgen davongetragen". Das stimmt in dieser Allgemeinheit nach allem was wir wissen, nicht. Aber für Subgruppen von Älteren wohl schon.

Vielschichtige Datenlage zu Lebensqualität älterer Menschen in der COVID-19 Pandemie

Altersvergleichende Studien mit relativ unausgelesenen Stichproben von älteren Menschen legen nahe, dass ältere Menschen in Bezug auf allgemeine Lebensqualität in der Corona-Krise eher weniger gefährdet als jüngere Menschen waren, erhebliche Einbußen im Wohlbefinden und im Erleben von sozialer Isolation zu erfahren.

Das haben wir auch in einer eigenen Studie so gefunden (Schlomann et al., 2021):

Ältere über 65 Jahre wiesen nicht nur im Niveau einzelner Einschätzungen von Lebensqualitätsindikatoren durchweg bessere Werte auf; sie waren auch besser als die 40- bis 64-Jährigen in der Lage, die relativ guten Werte in den ersten Monaten der COVID-Krise zu halten (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Ergebnisse zur Entwicklung der allgemeinen Lebenszufriedenheit, der Einschätzung des Familienlebens und der Qualität sozialer Kontakte von 40 bis 79-Jährigen in Deutschland zwischen März und August 2020 (nach Schlomann et al., 2021). Höhere Werte bedeuten eine bessere Einschätzung.

Ergebnisse des Deutschen Alters-Survey zeigen, dass sich Einsamkeitserleben ähnlich über verschiedene Altersgruppen hinweg im Zuge der COVID-19 Krise erhöht hat, übrigens auch ohne bedeutsame Geschlechtsunterschiede. (Die Studie ist am Ende des Artikels verlinkt.)

Demgegenüber haben sich die sozialen Isolationsmaßnahmen im Pflegeheimkontext mit ziemlicher Sicherheit nach den vorliegenden internationalen Studien deutlich negativ ausgewirkt (Benzinger et al., 2021).

  • Einsamkeit, Trauer und Depressivität, aber auch Angst, als häufige Reaktionen der Bewohner auf die Kontakt- und Besuchsrestriktionen.
  • Bewohner mit kognitiven Einschränkungen litten insgesamt stärker unter den Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen.
  • Mitarbeitende schildern Angst vor einer Infektion bei sich selbst als auch gegenüber den Bewohnern.
  • Wut darüber, nicht ausreichend geschützt worden zu sein.

Auch die Auswirkungen auf die Versorgungsqualität im Sinne eingeschränkterer Pflegeangebote qualitativ und quantitativ im ambulanten Bereich dürften gravierend gewesen sein (Wolf-Ostermann et al., 2020).

Auch in Bezug auf Altersdiskriminierung ergibt sich ein vielschichtiges Bild. Es gibt viele Hinweise, dass infizierte Bewohner:innen von Altenpflegeheimen oder aus dem ambulanten Bereich nicht in ausreichendem Maß auf eine Intensivstation verlegt wurden.

Es gibt viele Hinweise, dass in der COVID-19 Krise eine Verrohung der öffentlichen Kommunikation in Bezug auf Ältere stattfand, vor allem im Zuge der ersten Pandemiewelle. Es gibt viele Hinweise, vor allem aus Italien und Frankreich, dass vor allem in der ersten Pandemiewelle Alter als Auswahlkriterium für Behandlungsselektion herangezogen wurde. Es gibt viele Hinweise, dass vor allem Hochaltrige im Privathaushaltsbereich bis heute nicht genügend bei Impfkampagnen unterstützt wurden, angefangen bei der einfachen Logistik, einen Impftermin digital zu vereinbaren und in die Impfzentren zu gelangen (Ehni et al., 2021).

Interessanter Weise haben wir allerdings in einer eigenen Studie nicht gefunden, dass derartige Alternsdiskriminierungen von der Mehrheit älterer Menschen in Deutschland so erlebt wurde (Wahl et al., 2020). Vielmehr war es nur eine kleine Gruppe, welche eine starke Altersdiskriminierungen wahrnahm; ebenso war es nur eine kleine Gruppe, welche eine solche Diskriminierung überhaupt nicht erlebte. Der größte Teil der Stichprobe verteilte sich zwischen diesen beiden Extremen.

Empfehlungen

Wettstein und Wahl (2021, S. 42) kommen nach ihrer Sichtung der einschlägigen Literatur zu den folgenden Empfehlungen, die hier als vollständiges Zitat wiedergegeben werden:

  • Ältere Menschen kommen nach jetzigem Forschungsstand insgesamt in Bezug auf psychosoziale Konsequenzen relativ gut durch die Corona-Krise. Es gibt aber auch stärker gefährdete Subgruppen wie Pflegeheimbewohner:innen. Die Ergebnisse von bereits veröffentlichten Studien zeigen, dass in Privathaushalten lebende ältere Menschen sich durch die Pandemie insgesamt keineswegs stärker psychosozial belastet fühlen als jüngere Menschen. Allerdings sind hochaltrige Menschen, die in Pflegeheimen leben, in der Corona-Krise in besonderer Weise von sozialer Isolation bedroht. Dieser muss unter allen Umständen entgegengewirkt werden.
  • In der Corona-Krise sind ältere Menschen womöglich gefährdeter, diskriminiert und stigmatisiert zu werden. Diesem Trend müssen Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Medien entgegentreten. Auch wenn ältere Menschen für schwere oder gar tödliche Krankheitsverläufe bei Ansteckung mit dem COVID-19-Virus gefährdeter sind, sollte allzu einseitigen und pauschalen Darstellungen älterer Menschen als homogene und hoch verletzliche Risikogruppe deutlich widersprochen werden.
  • Die COVID-19-Krise zeigt die noch mangelnde Digitalisierung bei älteren Menschen auf, was wahrscheinlich auch mit negativen psychosozialen Folgen verbunden ist. Zwar ist die Datenlage zu den Potenzialen von digitalen Technologien und Medien zur Bewältigung psychosozialer Anforderungen in der Corona-Krise sehr unbefriedigend. Sie zeigt aber deutlich die bisher nur mangelhaften Digitalisierungs­bestrebungen vor allem im Bereich Pflege und Alter auf.
  • Der existierende Forschungsstand zu den psychosozialen Konsequenzen der Corona-Pandemie muss als vorläufig betrachtet werden, und die Forschung zu den Folgen der Pandemie muss intensiviert, gut koordiniert und vernetzt fortgesetzt sowie interdisziplinär und international ausgerichtet werden. Die Entwarnung, die Befunde teilweise zu geben scheinen, muss nicht Bestand haben, wenn sich das Corona-Virus noch weitere Monate oder sogar Jahre ausbreitet und wenn sich die Lage immer wieder in Form von drastischen Infektionsanstiegen zuspitzt.

Literatur

  • [1] Ayalon, L., Chasteen, A., Diehl, M., Levy, B., Neupert, S. D., Rothermund, K., Tesch-Römer, C., Wahl, H.-W.: Aging in times of the COVID-19 pandemic: Avoiding ageism and fostering intergenerational solidarity. In: Journal of Gerontology: Psychological Sciences, 76, e49-e52. 2021 
  • [2] Ehni, H.-J., Schweda, M., & Wahl, H.-W.: Older adults and COVID-19 – Protection from direct and indirect harm. Ethical recommendations regarding older adults in the COVID-19 pandemic. Policy Brief. Bremen: Competence Network Public Health COVID-19, 2021
  • [3] Levy BR, Slade MD, Chang ES, Kannoth S, Wang SY: Ageism Amplifies Cost and Prevalence of Health Conditions. In: Gerontologist 60 (1):174-181. 2020
  • [4] Wahl, H.-W., Wurm, S., Schlomann, A., & Ehni, H.-J.: Ältere Menschen in der Zeit der Corona-Pandemie: Theoretische Konzepte und eigene Studienergebnisse. In: Medien & Alter, 17, 9-24., 2020
  • [5] Wettstein, M., & Wahl, H.-W.: Die Corona-Pandemie und ihre psychosozialen Konsequenzen für ältere Menschen in Deutschland: Ein Zwischenresümee aktuell verfügbarer Evidenz. In: In E. Lines (Hrsg.), Post-Pandemic Populations. Die soziodemografischen Folgen der COVID-19-Pandemie in Deutschland (S. 42-51)., Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend & Population Europe Secretariat, 2021
  • [6] Wolf-Ostermann K, Rothgang H, Domhoff D, Friedrich A-C, Heinze F, Preuß B, Schmidt A, Seibert K, Stolle C: Zur Situation der Langzeitpflege in Deutschland während der Corona-Pandemie. Ergebnisse einer Online-Befragung in Einrichtungen der (teil)stationären und ambulanten Langzeitpflege. 2020
  • [7] Wurm S, Diehl M, Kornadt AE, Westerhof GJ, Wahl H-W: How do views on aging affect health outcomes in adulthood and late life? Explanations for an established connection. Developmental Review 2017 
  • [8] Benzinger, P., Kuru, S., Keilhauer, A., Hoch, J., Prestel, P., Bauer, J. M., & Wahl, H.-W.: Psychosoziale Auswirkungen der Pandemie auf Pflegekräfte und Bewohner von Pflegeheimen sowie deren Angehörige – Ein systematisches Review. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 54, 141–145., 2021 
  • [9] Schlomann, A., Bünning, M., Hipp, L. & Wahl, H.-W.: Aging during COVID-19 in Germany: A longitudinal analysis of psychosocial adaptation and attitudes toward aging. In: European Journal of Ageing, 2021 

Weiterführende Informationen