Gewalt an älteren Menschen – Was hat die Frauen so lange in Gewaltbeziehungen gehalten?

Birgit Haller beleuchtet als Expertin die Problematik der Gewalt an älteren Menschen und geht den Gründen nach, was Frauen so lange in Gewaltbeziehungen gehalten hat.

Autorin: Dr.in Birgitt Haller, Leiterin des Institut für Konfliktforschung (IKF) Wien

Thema September 2021

Im Zuge eines am IKF durchgeführten Projekts zu Partnergewalt gegen ältere Frauen erfuhren wir von Betroffenen, die jahrzehntelang Gewalt ausgesetzt waren, dass sie sich erst trennten, als eine Gewalthandlung das bisherige Maß bei Weitem überschritt und sie Angst um ihr Leben hatten. Nur einige Frauen hatten erkannt, dass sich ihr Partner nicht mehr ändern würde und es für sie keine Alternative zur Trennung gab, wenn sie noch einige Jahre friedlichen Lebens vor sich haben wollten.

Warum sind die Interviewpartnerinnen jahrzehntelang in einer gewalttätigen Beziehung verblieben? Auch wenn sie das im Rückblick selbst nicht mehr verstehen können, finden sie doch eine Reihe von Erklärungen für ihr Verhalten, die sehr viel über gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse und gelebte geschlechtsspezifische Rollenbilder aussagen. Es ist immer eine Mischung aus existenziellen Zwängen, individuellen Persönlichkeitsstrukturen, Hoffnungen und gesellschaftlichen Normvorstellungen, die eine Lösung aus der Gewaltbeziehung erschwerten.

Existenzielle Ängste und Zwänge

Ökonomische Gründe wurden am häufigsten genannt: Sogar bei den wenigen Frauen, die fast durchgängig berufstätig waren, reichten das Einkommen und später die Pension nicht zum Leben. Die ökonomische Abhängigkeit vom Partner bzw. vom Ex-Partner bestand nicht nur während, sondern auch nach der Ehe, weil die meisten keine Unterhaltszahlungen bezogen. Abgesehen von existenziellen Ängsten erschwerte insbesondere der Besitz eines Hauses für viele Frauen die Trennung, sei es wegen der emotionalen Bindung an das Haus als etwas gemeinsam Geschaffenes, sei es, weil es sich seit Langem im Familienbesitz der Frau befand und sie es nicht aufgeben wollte.

Kinder

Gemeinsame Kinder hielten viele Frauen von einer Trennung ab, aber nicht nur, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen und deren finanzielle Absicherung nicht zu gefährden, sondern auch wegen der Vorstellung, dass eine "richtige Familie" aus Vater, Mutter und Kind besteht, und der Überzeugung, dass Kinder ihre Väter brauchen würden. Dass der Vater die Kinder schlug, änderte daran nichts. Aufgrund des gängigen Konzepts der "richtigen Familie" wollten Frauen ihre Kinder auch vor dem Gerede der Leute und vor Benachteiligungen schützen.

Gesellschaftliche Konventionen

Bis in die 1970er-Jahre hinein waren Scheidungen noch selten, insbesondere am Land. Das ließ manche Frauen vor einem solchen Schritt zurückschrecken, nicht zuletzt, weil ihnen keine alternativen Lebensmodelle zur Verfügung standen. Der Schein musste nach außen aufrechterhalten werden, wollte man nicht das Gerede der Nachbar:innen, von Verwandten und Bekannten provozieren und den guten Ruf der Familie in der Gemeinde riskieren. Gleichzeitig wurde eine Trennung oder Scheidung als persönliches Scheitern und als Schande empfunden, weil ja in der Wahrnehmung vieler nicht der Täter, sondern das Opfer die Schuld an der Gewalt trägt. Nicht zuletzt hat die katholische Kirche die Sozialisation der älteren Generation geprägt, und dazu gehört das Bild des Sich-Aufopferns für Mann und Kinder.

Gewaltverständnis

Der Gewaltbegriff hat sich stark verändert und ist wesentlich breiter geworden. Beschimpfungen und Demütigungen ebenso wie leichte körperliche Gewalt. Zum Beispiel Ohrfeigen, wurden lange Zeit als "normal" betrachtet, als etwas, was zwar nicht angenehm, aber eben Teil männlicher Verhaltensmuster ist (und ihnen zusteht). Selbst schwere körperliche Gewalt wurde unter dem Deckmantel der scheinbaren Normalität hingenommen (auch vom sozialen Umfeld des Opfers).

"Persönliche Defizite"

So wie Frauen häufig die Zuschreibung akzeptieren, sie seien schuld an der ihnen zugefügten Gewalt, nannten die Interviewpartnerinnen "persönliche Defizite" als Hintergrund für den jahrzehntelangen Verbleib in der Gewaltbeziehung. Darunter fielen Angst vor dem Alleinsein, Konfliktscheue, Bequemlichkeit, Perspektivlosigkeit, fehlende Kraft für einen Neuanfang oder mangelndes Selbstbewusstsein – auch wenn manche Frauen durchaus erkannt hatten, dass dies mit dem langjährigen Erleben von Gewalt zusammenhängt. Emotionale Abhängigkeiten wurden nicht als "persönliche Defizite" interpretiert, fallen strukturell aber auch in diese Kategorie.

Ausblick

Einige der von älteren Frauen genannten Gründe, jahrzehntelang in einer Gewaltbeziehung zu verbleiben, haben für jüngere an Gewicht verloren: Sie sind besser ausgebildet und in höherem Maß berufstätig, und vor allem haben sich gesellschaftliche Erwartungen verändert und das traditionelle Geschlechtsrollenverständnis erodiert zunehmend. Es ist zu erwarten, dass das Kriterium Alter als zusätzliche Benachteiligung für Opfer von Partnergewalt weiter an Bedeutung verliert.

Literatur

  • [1] Hörl, J., Unter Mitarbeit von Haslinger, A.; Mulser & Hellweger, U., Büro für Sozialtechnologie und Evaluationsforschung, Wien: Übergriffe, Gewalt und Aggression gegen ältere Menschen. Erfahrungen von Expertinnen und Experten in österreichischen Beratungs- und Hilfseinrichtungen. Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Wien, 2009
  • [2] Nägele, B.: Partnergewalt gegen ältere Frauen In: Public Health Forum, vol. 27, no. 1, pp. 24-26, 2019

Weiterführende Informationen