Emotionelle Erste Hilfe – Bindungsförderung und Krisenintervention für Eltern und Säuglinge

Eduard Gutle erläutert in seiner Expertenstimme Wege aus dem Labyrinth schwächender Bindungserfahrungen und zeigt Methoden auf, welche die Bindungsbereitschaft von Eltern und Kind wiederherstellen.

Elternschaft wird heutzutage oft auf die schönen und angenehmen Seiten des Zusammenseins mit dem Kind reduziert. Die Spannungszustände, das Unlusterleben sowie die Zeiten der Unsicherheit, die jedes Eltern-Sein beinhaltet, finden allzu selten Anerkennung und Erwähnung. Emotionelle Erste Hilfe (EEH) ist ein körperorientierter Ansatz, welcher die liebevolle Eltern-Kind-Bindung in der Schwangerschaft und nach der Geburt unterstützt.

Autor: Mag. Eduard Gutleb, Klinischer- und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut (KBT) arbeitet als Jugendamtspsychologe bei der AVS Kärnten (PPD) und in freier Praxis

Thema Oktober 2020

Die Corona-Krise hat die Gesellschaft in den letzten Monaten in ihren Grundfesten "erschüttert". Depressionen, Ängste und alte Traumata kommen an die Oberfläche, bestimmen vieler Menschen Alltag. Subjektiv erleben sie ein Gefühl der "Enge" und "Bedrohung" in ihrem Körper.

Wie geht es in solchen Zeiten werdenden bzw. jungen Eltern, welche sehr oft durch die große Veränderung in ihrem Leben herausgefordert sind und oft durch das Schreien ihrer Babys mit alten "Gespenstern" konfrontiert werden?! Damit ist gemeint, dass in Eltern dabei "vergessene" Gewalterfahrungen der eigenen Kindheit hervorgerufen werden können und somit zur Überforderung beitragen.

Innerhalb der Corona-Krise kommt hierbei noch die soziale Isolation hinzu, noch weniger als zuvor kann den jungen Eltern jemand zur Seite stehen, ihnen Rat geben bzw. ihnen etwaig das Kind abnehmen, damit sie ein wenig Zeit für sich finden und somit Entlastung erleben dürfen. Das Elternpaar ist aber auch zwischenmenschlich mehr gefordert als sonst, niemand anderer als ihr Partner steht ihnen zur Verfügung, und da die Not groß ist steigen auch die Erwartungen an diesen.

Frustration stellt sich ein und Konflikte nehmen zu. Die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation ist erhöht. Gefühle drängen sich auf, Situationen gehen den Betroffenen nahe, und die alte Verletzung entlädt sich mit enormer Wucht. In der Regel verstehen die Eltern nicht, warum sie sich so verängstigt oder gar panisch verhalten. Die Selbstanbindung geht in akuten Krisen verloren, es ist den betroffenen Eltern nicht mehr möglich Abstand zu nehmen um diese bedrängenden Stresszustände aus eigener Kraft zu beenden und aufzulösen.

Wir kommen in diesem Kontext auf das Bindungstrauma zu sprechen. Es handelt sich dabei um Erfahrungen der frühsten Kindheit, der Zeit der präverbalen Phase. Der Umstand, dass es an diese Zeit keine bewusste Erinnerung gibt erschwert den Zugang innerhalb der Therapie. Wir sprechen dabei von einer Reinszenierung der zugrundeliegenden Traumata und meinen, dass sich die traumatischen Muster in späteren Beziehungskontexten wiederholen, da die Bindungsfähigkeit nicht ausreichend entwickelt werden konnte.

Eltern- Sein beinhaltet Spannungszustände, Unlusterleben sowie Unsicherheit. In Zeiten einer globalen Krise wird dieser Spannungszustand noch verstärkt und somit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Kontrollverlusts mit damit zusammenhängenden Gewalterfahrungen.

Wege aus den schwächenden Kreisläufen

Emotionelle Erste Hilfe unterstützt Eltern, Säuglinge und Kleinkinder dabei, Wege aus dem Labyrinth schwächender Bindungserfahrungen zu finden. Zur Anwendung kommen dabei körperorientierte Methoden, welche die Bindungsbereitschaft von Eltern und Kind wiederherstellen.

Sich einzugestehen, dass man überfordert ist, und dies nach außen zu kommunizieren ist auch unter normalen Umständen keine Selbstverständlichkeit! In Zeiten von Corona wird dies, wie oben beschrieben noch zusätzlich erschwert. Dadurch kommen betroffene Eltern oft in eine Sackgasse und sind verleitet die Lösung ausschließlich beim Säugling zu suchen. Es wird am Verhalten des Säuglings gearbeitet und somit von ihm erwartet, dass er sich sodann verändert.

Das Motto lautet: "Wenn nur das Kind ruhiger, anschmiegsamer, kontaktbereiter wäre, dann, ja dann, wäre alles in Ordnung!"

Die Fokussierung der Eltern auf das Kind als das Problem ist Ausdruck ihrer vorliegenden Stress- und Alarm-reaktion. Dadurch verlieren sie den feinfühligen Zugang zu sich selbst und den Bedürfnissen ihres Kindes. Der Verlust der körperlichen Selbstwahrnehmung, die hohe Körperspannung sowie der Kontaktverlust zum Kind sind dabei lediglich unterschiedliche Seiten einer umfassenderen Krisendynamik.

Spürst du dich, spürst du dein Kind

Das Konzept der Emotionellen Ersten Hilfe leitet die Eltern anhand von einfachen Körper- und Wahrnehmungsübungen dazu an, den Fokus vom maximal tonisierten Säugling wegzuführen, und sich an den Fluss ihrer eigenen Körperempfindungen rückzubinden. Dies wird im Sinne der Emotionellen Ersten Hilfe (EEH) auch als Selbstanbindung definiert.

Diese ist von zentraler Bedeutung für das "Bändigen der alten Gespenster" und dient somit der Stabilisierung der in einem Ausnahmezustand sich befindlichen Eltern. Sie erfahren dadurch in sich wieder Halt, erfahren Sicherung und es wird ihnen leichter möglich, die Bedürfnisse und Gefühlszustände des Kindes wieder achtsam zu erfassen und adäquat zu beantworten.

Ziel der EEH ist es, die Eltern in einem Zustand hinreichender Öffnung, Zentrierung und Verlangsamung zu behalten. Es ist dies eine Haltung mittels derer Eltern ihren Kindern ausreichend Sicherheit vermitteln können. Die vermehrte Entspannung im Körper der erwachsenen Begleiter überträgt sich spontan auf den Säugling.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem Prozess der "positiven emotionalen Ansteckung". Das Kind kann seinen Kummer, seine Frustration oder seinen Kontaktmangel körperlich ausdrücken, da die Eltern gelernt haben sich selbst mehr anzunehmen und sich wertzuschätzen.

Wirkfaktor Achtsamkeit

Achtsamkeit wird beschrieben als das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit auf die Erfahrung des gegenwärtigen Moments, ohne diese sofort vor dem Hintergrund von Vorerfahrungen in eine Schublade einzusortieren oder automatisch darauf zu reagieren.

Kurtz (1986, S.42) sieht innere Achtsamkeit als den Bewusstseinszustand an, in dem sich der Patient am besten selbst beobachten könne. Er sei "charakterisiert durch ein entspanntes Wollen, die Hingabe an das und die Akzeptanz dessen, was im Augenblick geschieht; eine sanfte, kontinuierlich bewahrte Konzentration darauf, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten, eine erhöhte Sensibilität sowie die Fähigkeit, die Bewusstseinsinhalte zu beobachten und zu benennen" (Kurtz, 1994, S.20).

Studien weisen darauf hin, dass Achtsamkeit zu einer verbesserten Emotionsregulation führen kann. So zeigten z. B. fMRT-Studien bei Personen mit hoher dispositioneller Achtsamkeit (gemessen mit der Mindful Attention Awareness Scale) eine verstärkte Hemmung der Amygdala durch den Präfrontalen Cortex während des Benennens von Emotionen (Creswell David et al, 2007, S. 560 – 565).

Achtsamkeit kann sowohl als eine Haltung verstanden werden, die Qualitäten wie Geduld, Offenheit, Vorurteilslosigkeit, Toleranz und Freundlichkeit gegenüber dem, was aufgetreten ist, zur Geltung bringt, als auch als eine Handlung oder Praxis des bewertungsfreien Wahrnehmens, die man formell einüben kann.

Körperbasierte Psychotherapie, die Konzentrative Bewegungstherapie

Die Konzentrative Bewegungstherapie (KBT) ist eine anerkannte tiefenpsychologisch fundierte, körper-, handlungs- und erlebnis-orientierte Psychotherapiemethode. Sie versteht den Körper als den Ort des psychischen Geschehens. Denn all das, was wir seelisch empfinden, äußert sich ja auch körperlich, unabhängig davon, ob wir dies bewusst oder unbewusst erleben. Und alles Körperliche erleben wir auch seelisch, wobei wir dabei eher seine negativen Signale bewusst wahrnehmen (z.B. Schmerz).

In der Therapie sind wir demzufolge bemüht, daraus eine Einheit entstehen zu lassen.

Die 4 Ebenen:

  • Wahrnehmen,
  • Bewegen,
  • Denken und
  • Sprechen

werden dabei immer wieder durch gezielte "Angebote" gefördert und in einem Gesamtprozess integriert. Else Gindler, die Begründerin der KBT lehrte, dass sich eine Spannung im Körper lösen könne, indem wir sie beobachten und nicht verändern. Wenn mir dabei bewusst wird, wie ich dazu beitrage, sie herzustellen, kann ich sie eher loslassen (in Geuter U., 2019, S. 126).

So leitet man die Eltern an die Signale ihres Körpers ("Somatischer Marker") genauer zu beachten, beispielsweise ihren Atem. Mit etwas Übung wird die Atmung sodann zu einem wichtigen Informationssystem, welches ihnen mitteilt, ob sich ihr Organismus gerade in einem verschlossenen oder bindungsbereiten Zustand befindet (Harms Th., 2008, S. 110).

In der Körperpsychotherapie streben wir im Tiefsten nicht eine beobachtende Bewusstheit von Körper an, sondern das Sein im Körper (Geuter U., 2019, S. 128).

BeispielBeispiel

Eine 28- jährige Mutter berichtet im Erstkontakt davon, dass sie durch das Schreien ihrer 8 Wochen alten Ariana „am Ende sei"! Sie leide unter beginnenden Panikattacken bzw. depressiven Zuständen, wisse weder "ein noch aus"! Ihr Mann unterstütze sie unzureichend, nehme sie diesbezüglich nicht immer ernst. Sie habe ihm gegenüber auch schon von Trennung gesprochen.

Im Detail berichtet sie wie folgt: Ich fühle mich durch das stundenlange Schreien meines Kindes vollkommen überfordert, besonders in den späten Nachmittagsstunden kann ich Ariana nur noch mit letzter Kraft (aus-) halten. In der ersten Tageshälfte kann ich die Kleine noch ablenken schaukele sie sanft auf meinem Arm und lege sie häufig an meine Brust, summe ihr kleine Melodien vor etc. Im Laufe des Nachmittags nimmt dann die körperliche Spannung und Unruhe meines Kindes zu, in regelmäßigen Abständen, kommt es dann plötzlich und ohne Vorankündigung zu heftigen Schreiattacken. Ariana überstreckt sich dann nach hinten und reißt erschreckt ihre Augen auf.

In der Erörterung vorhandener und angewandter Beruhigungsstrategien zeigt sich, dass es außer dem ständigen Körperkontakt und sich durch den Raum bewegen, keine weiteren Verhaltensangebote gibt, welche der Mutter zur Bedürfnisbefriedigung des Säuglings zur Verfügung stehen. Somit bleibe das Erregungsniveau hoch und eine Beruhigung trete nicht ein.

In weiterer Folge wird das affektive Erleben der Kindesmutter während der Schrei- und Unruhephasen von Ariana exploriert. Sie bestätigt nochmals die allgemeine Überforderung und berichtet von einem Gefühl der Hilflosigkeit und des Alleingelassen- seins. Die Verbindung, also das Gefühl für ihr Kind gehe verloren. Dazu käme sodann auch noch, dass sie sich als "schlechte Mutter" erlebe und sie sich somit selbst abwerte.

Im letzten Schritt der Anamnese stehen die spezifischen Körperempfindungen im Moment der Überforderung im Fokus. Der zentrale somatische Marker ist dabei ein Gefühl der Enge in der Brust, bildhaft umschrieben, als ob ein Band um ihren Brustkorb gelegt wird, welches dann fest zusammengezogen wird und ihr vollkommen die Luft zum Atmen nimmt. Die Mutter kann diesen belastenden Zustand differenziert beschreiben und dem Brustkorb zuordnen.

Innerhalb der Therapie lernen die Mutter sowie in weiterer Folge auch der Vater durch die Stresserkundung das problematische Verhalten ihres Kindes ("exzessives Schreien") mit ihrem Gefühls- und Körperempfindungen ("Hilflosigkeit") zu verknüpfen. Es geht dabei um den Aufbau und die Etablierung von wirksamen Früh-warnsystemen in Momenten des drohenden Kontaktabbruchs zum Kind. Es geht also in erster Linie darum den Eltern ihre charakteristischen Stressmuster bewusst zu machen.

Im Anschluss an die Krisenintervention wird sodann darauf hingearbeitet, als dass die Eltern lernen ihre Körper- und Gefühlsreaktionen achtsamer zu beobachten. Im Falle einer erneut einsetzenden Schwächung der Bindungsbereitschaft ist es ihnen dann möglich, eigene Schritte der Selbstanbindung einzuleiten, die wiederum eine Stärkung der Nähebildung zum Kind ermöglichen sollen.

Literatur

  • [1] J. David Creswell, Baldwin M. Way, Naomi I. Eisenberger, Matthew D. Lieberman: Neural Correlates of Dispositional Mindfulness During Affect Labeling. In: Psychosomatic Medicine. 69 (6), S. 560–565, doi:10.1097/PSY.0b013e3180f6171f, 2007
  • [2] Baldwin M. Way, J. David Creswell, Naomi I. Eisenberger, Matthew D. Lieberman: Dispositional Mindfulness and Depressive Symptomatology: Correlations with Limbic and Self-Referential Neural Activity during Rest, Emotion Author manuscript, 2011
  • [3] Geuter, Ulfried: Praxis Körperpsychotherapie Berlin, Springer- Verlag, 2019
  • [4] Harms, Thomas: Emotionelle Erste Hilfe Berlin, Leutner- Verlag, 2008
  • [5] Neural Activity during Rest In: Emotion. 10 (1), S. 12–24, doi:10.1037/a0018312, PMC 2868367 (freier Volltext), 2010
  • [6] Kurtz, R.: Hakomi. Eine körperorientierte Psychotherapie Kösel, 1994