Wenn Kinder ihre Eltern schlagen

In diesem Bericht wird erläutert, warum es bei Gewalt von Kindern Eltern gegenüber wichtig ist, an mehreren Ebenen zu arbeiten: Einerseits sollen Eltern befähigt werden, Handlungsmöglichkeiten zu haben, um die Gewalt zu stoppen, denn es geht als erstes darum Schutz (für Kinder selber, Geschwister, Eltern...) vor möglicher Verletzung herzustellen. Dazu braucht man vorerst keine Ursachenforschung, sondern Klarheit: Gewalt gehört gestoppt.

Autorin: DSA Mag.a (FH) Theresia Ruß, Diplomsozialarbeiterin, Mediatorin und Leiterin des Kinderschutz­zentrums Amstetten

Thema Juli 2020

Justin, ein zweijähriger Junge, tritt seiner Mutter an der Kassa im Supermarkt gegen ihr Schienbein. Er schreit: Blöde Mama, du bist so gemein...

Wenn kleine Kinder im Alter von zwei, drei Jahren auf ihre Eltern hintreten, schlagen, weil etwas gegen ihren Willen geht, sie etwas nicht bekommen, das sie wollen, dann finden wir das ja noch halbwegs normal. Ich sage halbwegs, denn es liegt immer im Auge des Betrachters. Wenn wir diese Szene im Supermarkt beobachten, dann sind die Reaktionen der umstehenden Menschen sehr unterschiedlich. Das kann Empörung auslösen, so ein ungezogenes Kind, das kann ein Augenrollen sein, wie stellt sich diese Mutter an, die hat ihr Kind nicht im Griff und das kann ein wissendes Lächeln sein, ja, so sind Kinder eben.

So sind Kinder in dem Alter eben, ist schon eher dem Wissen um die psychologisch erforschten Entwicklungsphasen von Kindern näher. Sucht man in der Literatur zu dem Thema, findet man viele Ansätze dazu.

Familientherapeut Jesper Juul in seinem Buch: "Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist", meint:

"Eigentlich sind solche Wutszenen nichts Ungewöhnliches, spielen sich tagtäglich in unzähligen Familien ab und gehören genauso zur kindlichen Entwicklung wie etwa das Bedürfnis nach Geborgenheit. Dennoch ist aggressives Verhalten in unserer Gesellschaft unerwünscht, weil es nicht in das pädagogische Weltbild der meisten Eltern und Pädagogen passt: Sie streben nach möglichst harmonischem Zusammenleben ohne Wut und Gewalt und versuchen deshalb mit sanften Methoden daran zu arbeiten, dass Kinder zu netten, höflichen aber auch angepassten Menschen heranwachsen."
"Erwachsene sind oft entsetzt, wenn sie sehen, wie Kleinkinder die Katze am Schwanz ziehen oder ihren Geschwistern mit Bauklötzen auf den Kopf schlagen. Doch das ist ein natürliches Verhalten."

erklärt Richard Tremblay, Professor für Psychiatrie und Pädiatrie an der Universität Montreal.

"Kinder waren schon aggressiv, lange bevor es Fernsehen gab."

Nach seinen Studien erreichen Kleinkinder bereits im Alter von 18 Monaten eine Spitze in ihrem aggressiven Verhalten: Sie beißen, kratzen, werfen Gegenstände durch die Gegend und schlagen dann besonders oft und intensiv zu. Das bleibt etwa bis zum fünften Lebensjahr so. Erst danach entwickeln Kinder zunehmend die Fähigkeit, ihre Bedürfnisse gewaltlos durchzusetzen.

Das Zusammenleben in Familien, in unserer Gesellschaft ist geprägt von Normen und Meinungen unterschiedlichster Art.

Ein echtes Tabuthema und mit sehr viel Scham besetzt, ist, wenn große Kinder im Alter von ca. 10 bis 18 Jahren ihre Eltern schlagen. Denn das passiert, so wie bei jeder Form von häuslicher Gewalt, heimlich in den eigenen vier Wänden. Meist sind Mütter (aber auch Väter) die Betroffenen. Sie schweigen, weil sie als Eltern ihre Kinder decken und schützen, sind sie doch ihre Kinder. Sie schweigen, weil sie sich schämen, dass ihnen so etwas passiert, dass ihre eigenen Kinder zu so einer Gewalt fähig sind. Sie fühlen sich schuldig, beziehen diese Schuld auf sich, glauben, in der Erziehung versagt zu haben.

Dabei ist diese Thematik eine sehr viel komplexere. Wir nehmen an, es geschieht nichts ohne Grund. Kinder haben immer einen Grund, warum sie etwas tun. Wenn ein Kind so sehr unter Aggression und Spannung steht, dass es seine Mutter oder seinen Vater schlägt, dann hat das immer eine Vorgeschichte.

Nehmen wir Justin's Geschichte weiter, er erlebte die Scheidung seiner Eltern mit 12 Jahren. Sein Vater hatte eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung. Er konnte Nähe nicht zulassen, er reagierte oft gereizt und beschimpfte, beschuldigte seine Familie. Er ertrug den beruflichen Erfolg seiner Frau nicht, zeigte dies seinen eigenen Misserfolg in der Arbeitswelt umso deutlicher auf. Auch war er eifersüchtig auf die Freundschaften seiner Frau und begann sie zu kontrollieren und wollte sie für sich alleine besitzen. Er reagierte mit Eifersuchtsszenen und hatte gewaltige Zornausbrüche.

Justin erlebte als Kind des Öfteren, wie sein Vater auf seine Mutter losging, sie verbal und körperlich attackierte. Bis sie schließlich die Scheidung einreichte. Der Scheidungsprozess gestaltete sich tragisch. Der Vater versuchte die Scheidung mit allen Mittel zu verhindern. Er drohte der Mutter, er instrumentalisierte Justin mit: "Sag deiner Mutter, sie solle die Familie nicht zerstören, bring sie zur Vernunft", er sagte dem Jungen, dass seine Mutter an allem schuld sei, sie mache alles kaputt...

Justin reagierte zuerst hilflos und als schließlich ein Polizeieinsatz notwendig war um den ausartenden Vater wegzuweisen und dieser in eine Psychiatrie eingeliefert wurde, war er völlig aus der Bahn geworfen.

Als Jugendlicher identifizierte er sich mit dem Brocken Home Syndrom und suchte in der Drogenszene Trost. Seine Mutter war mit sich, den Schuldgefühlen und ihrer Trauer über die zerstörte Familienidylle beschäftigt. Sie war völlig überfordert mit den Herausforderungen und reagierte auf Justin wütend. Justin war aggressiv und es gipfelte des Öfteren in Handgreiflichkeiten, wobei Justin auf seine Mutter schlug und sie auf heftigste beschimpfte und bedrohte.

Drogen veränderten zusätzlich seine Realität, seine Wahrnehmung wurde eine andere. Zudem musste der Drogenkonsum, weil verboten, vertuscht werden. So entstand ein Lügenkonstrukt, welches für junge Menschen wie Justin mit seinen 12 Jahren es war, auch extrem anstrengend war. Da keine Unterstützung zu haben, machte ihn ohnmächtig und aggressiv.

Als Außenstehende erkennt man Gründe für Justins Aggressionen.

Gründe für Aggressionen gibt es immer, zum Beispiel:

  • innerfamiliäre, ungelöste Konflikte
  • die Art und Weise wie Kommunikation in der Familie passiert
  • wie der Vater mit der Mutter (oder umgekehrt) umgeht
  • wie Vorbild/Rollenbild vorgelebt wird
  • wie Beziehungen und Konfliktlösungsstrategien gelebt werden
  • welche Handlungsmöglichkeiten es gibt

Es können

  • psychische Krankheiten sein,
  • veränderte Wahrnehmungen,
  • Suchtproblematiken und
  • noch vieles mehr.

Es könnte zum Beispiel auch ein außerfamiliär erlebtes Trauma beim Kind vorgefallen sein, an dem die Eltern keine Schuld trifft. Die Eltern erleben dann ein verändertes aggressives Kind und reagieren vielleicht hilflos.

Bei Gewalt von Kindern Eltern gegenüber ist es wichtig, an mehreren Ebenen zu arbeiten:

  • Einerseits sollen Eltern befähigt werden, Handlungsmöglichkeiten zu haben, um die Gewalt zu stoppen. Es geht als erstes darum Schutz (für Kinder selber, Geschwister, Eltern...) vor möglicher Verletzung herzustellen. Dazu braucht man vorerst keine Ursachenforschung, sondern Klarheit: Gewalt gehört gestoppt.
  • Anderseits ist dann in Folge die Bearbeitung der Gründe sehr wohl wichtig. Das kann parallel von Eltern und Kindern passieren.

Dorothea Weinberg beschreibt in ihrem Buch: "Verletzte Kinderseele", was Eltern traumatisierter Kinder wissen müssen und wie sie richtig reagieren, warum Kinder aggressiv reagieren. Traumatische kindliche Erfahrungen zeigen sich im Verhalten. Wenn Erziehungsberechtigte Auslöser (auch Trigger genannt) nicht erkennen, so kann sich eine Situation hochschaukeln und in Gewaltszenen ausarten. Weinberg beschreibt sehr gut, was Trigger sein können und zeigt Lösungsansätze für Eltern auf.

Haim Omer und Philip Streit zeigen in dem Buch: "Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern" Wege aus der Hilflosigkeit für Eltern auf. Sie berichten in vielen anschaulichen Beispielen aus der Praxis, wie elterliche Präsenz gelingt. Die Haltung: "Wir sind da. Wir bleiben da. Wir sind deine Eltern, wir schätzen dich, wir werden dich nicht aufgeben." ist hilfreich.

Omer und Streit:

"Neben der Funktion des sicheren Hafens zeichnet sich gelingende und selbstbewusste Erziehung auch durch eine sogenannte Ankerfunktion aus, die Regeln und Strukturen vorgibt und das Schiff bei Gefahr im Verzug auf dem richtigen Kurs hält."

"Eine starke Ankerfunktion beruht auf vier wichtigen Elementen, die erlern- und einübbar sind: erstens Struktur, zweitens Präsenz und wachsame Sorge, drittens Unterstützung und viertens Selbstkontrolle und Deeskalation."

Die Familiengeschichte von Justin endete schließlich positiv. Die Mutter von Justin suchte sich ein Unterstützungsnetzwerk. Sie wandte sich ans Kinderschutzzentrum, bekam als Mutter Handlungsfähigkeit, Justin machte eine stationäre Drogenentwöhnung, die Kinder- und Jugendhilfe war unterstützend involviert. Großeltern und Freunde wurden als Unterstützer herangezogen.

Ein Netz von Helfern war es, das Justin und seine Mutter in eine positive Richtung unterstützte. Der gesamte Prozess dauerte ca. eineinhalb Jahre, die Gewaltausbrüche von Justin seiner Mutter gegenüber konnten schon nach ein paar Wochen beendet werden. Es erforderte jedoch von der Mutter Mut, sich an eine Einrichtung wie das Kinderschutzzentrum zu wenden und die Gewalttaten des Sohnes anzusprechen und zu berichten.

Justins Name wurde verändert.

Literatur

  • [1] Juul, Jesper: Aggression: warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist S. Fischer Verlag, 2013
  • [2] Dorothea Weinberg: Verletzte Kinderseele. Was Eltern traumatisierter Kinder wissen müssen und wie sie richtig reagieren Klett-Cotta, 2015
  • [3] Haim Omer, Philip Streit: Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen, 2016

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