Warum "Nein-Sagen" als Präventionsmaßnahme zu kurz gedacht ist und wie wir stattdessen Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen können

"Du darfst Nein sagen!" Rückblickend betrachtend war dies bestimmt die beliebteste Botschaft vieler Erwachsenen, weil sie so einfach klingt und so vielversprechend scheint: "Sag nur laut und deutlich NEIN oder STOPP, dann passiert dir nichts!". Doch der Schein trügt. Was, wenn dann doch etwas passiert? Wer hat dann Schuld? Dass sich Betroffene von sexualisierter Gewalt noch immer rechtfertigen müssen, warum ihnen etwas angetan wurde - ob sie sich denn nicht gewehrt hätten - zeigt klar, dass die Verantwortung der falschen Person zugetragen wird. Denn verantwortlich für eine Tat, die begangen wird ist immer der oder die Täter:in.

Autor: Katja Koller, MA, Sozialarbeiterin, Sexual- und Traumapädagogin, Bereichsleitung für Sexuelle Bildung und Prävention beim Verein PIA - Sexuelle Bildung und Prävention, Therapie bei sexueller Gewalt in Oberösterreich, setzt sich mit einer unserer früheren präventiven Botschaften auseinander: "Du darfst Nein sagen!"

Thema Juli 2022

Der bittere Beigeschmack der Nein-sage-Botschaft: Die Verantwortung für den Schutz der Kinder wird direkt an das Kind übertragen. Dabei scheint es allein aufgrund des körperlichen Größenunterschiedes logisch, dass sich ein Kind niemals gegen eine erwachsene Person wehren kann. Dazu kommen Machtstrukturen- und Beziehungen, Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse.

Die Verantwortung für den Schutz der Kinder tragen immer die Erwachsenen. Je mehr Erwachsene sich dafür zuständig fühlen, umso eher können Kinder auch geschützt werden. Das Zuständigkeits­gefühl zeigt sich dadurch, dass Erwachsene ganz klar Position beziehen gegen Gewalt und durch die Solidarität und Unterstützung für Betroffene. Eine weitere Herausforderung dieser "präventiven" Botschaft: Wie leicht ist es tatsächlich "Nein" zu sagen? Wie oft schaffen wir Erwachsenen es, unsere Grenzen zu schützen?

Ich selbst ertappe mich leider oft genug dabei, "Ja" zu sagen, obwohl mir ein "Nein" lieber wäre. Denn auch wir Erwachsenen sehnen uns nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Ein "Nein" birgt also auch ein gewisses Risiko des sich Unbeliebt-machens, des Ausschlusses.

Und dann gibt es noch ein weiteres Problem: Haben Sie es "gelernt" Nein zu sagen? Und damit meine ich, ob Ihr "Nein" von klein auf respektiert wurde? Ein geläufiges Beispiel für das Gegenteil ist, dass Kinder dazu gedrängt werden, dem Besuch ein Bussi zu geben, weil er oder sie ein Geschenk mitgebracht hat. Das Kind möchte das nicht, spürt also seine eigene Grenze. Häufig werden diese natürlichen Grenzen und das gute Gefühl dafür "abtrainiert".

Übung

Ich möchte Sie zu einer kleinen Nein-Sage-Reflexion einladen:

Bitte überlegen Sie, wann Sie die letzten Male "Ja" gesagt haben, aber lieber "Nein" gesagt hätten: zu Freundinnen oder Freunden, zu den Eltern, anderen vertrauten Personen, zu einer:einem Vorgesetzten oder zu einer Person, die Sie nicht so gut kennen.

  • Warum fiel es Ihnen schwer, Nein zu sagen?
  • Was wäre möglicherweise passiert, wenn Sie Nein gesagt hätten?
  • Wie geht es Ihnen selbst, wenn Sie ein Nein von anderen Menschen hören?
  • Wann fällt es Ihnen leichter Nein zu sagen?
  • Wann ist es schwieriger Nein zu sagen?
  • Und was glauben Sie, warum das so ist?
  • Was hätten Sie in bestimmten Situationen benötigt, um ein Nein auszusprechen?

Diese Übung zeigt, dass Nein-Sagen eine sehr komplexe und herausfordernde Aufgabe sein kann und es mit ein wenig Nein-Schreien im Turnsaal nicht abgetan ist.

Neben der Verantwortung, die Erwachsene für den Schutz von Kindern tragen - Wie kann man nun Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen?

Indem man einen wertschätzenden und freundlichen Umgang pflegt und auf die Bedürfnisse und Grenzen des Kindes achtet. Das heißt nicht, dass wir den Kindern alles erlauben müssen. Wenn ein Kind auf die Straße laufen will, setze ich eine Grenze und schütze es damit vor einer Verletzung. Auch die Grenzen der Eltern sind schützenswert und wenn mehrere Bedürfnisse aufeinandertreffen, kann dies natürlich zu Konflikten führen.

In solchen Situationen kann man als Erwachsene:r versuchen wertschätzend und fair zu bleiben. Und wir Eltern dürfen uns auch einmal entschuldigen, wenn wir gemein oder ungerecht waren. Das zeigt dem Kind: auch wir Großen machen Fehler.

Ein weiterer wichtiger Schutzfaktor ist es, wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie selbst wertvoll sind und ihr Körper etwas Schützenswertes ist. Kinder, die erfahren, dass Erwachsene ihre Grenzen respektieren, Kinder die lernen selbstwirksam zu sein, sind besser geschützt.

Wir alle sind Vorbilder für die Kinder, d. h. Prävention ist auch eine Frage der Haltung: Wie gehe ich selbst mit meinem Körper und meinen Bedürfnissen um? Wie spüre und setzte ich selbst Grenzen? Wie zeige ich Gefühle? Wie gehe ich mit anderen Menschen und deren Grenzen um?

Sexualpädagogik oder auch Aufklärungsunterricht ist für viele Eltern und Pädagogen und Pädagoginnen wie eine heiße Kartoffel, die gerne weiter gereicht wird. Dabei bietet sie neben den Möglichkeiten das Vertrauen zu stärken, Kinder bei ihrer Entwicklung zu unterstützen und gemeinsam zu lachen und zu erforschen, vor allem auch Schutz vor sexualisierter Gewalt!

Wenn Sexualität ein offenes Thema ist, ist es im Allgemeinen auch leichter über sexuelle Übergriffe zu sprechen. Viele Betroffene berichten, dass sie sich keine Hilfe holen konnten, weil sie einfach keine Sprache dafür hatten, was Ihnen angetan wurde. Neben der Sprache lernen Kinder und Jugendliche durch altersgerechte sexuelle Bildung auch, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und diese zu achten. "Mein Körper ist wertvoll und schützenswert!", so lautet heute eine zentrale Botschaft in unseren Workshops, die wir an Schulen durchführen.

Sexuelle Bildung fördert damit ein "Ja" zu sich selbst zu entwickeln. Dies ist die Grundvoraussetzung selbstsicher ein "Nein" gegenüber einer anderen Person zu äußern. Viele Elemente der Sexuellen Bildung schärfen zudem die Selbstwahrnehmung und Spürfähigkeit: Wer sich selbst gut spürt, gut bei sich ist, wird anderen gegenüber kaum gewalttätig werden. Sexuelle Bildung ist damit immer auch Täter:innenprävention.

Sexualität ist ein zentraler Bestandteil unserer Identität: Das hat mit mir und meinen Körper zu tun, mit sozialen Phänomenen, mit Liebe und Gefühlen, Beziehungen, Freundschaft, Moral und Ethik, Verhütung, Krankheiten und vielem mehr. Mehr denn je brauchen Kinder und Jugendliche heute Unterstützung bei diesen Themen: Durch die Technik ist der Zugang zu unerwünschten Bildern und Inhalten vorprogrammiert. Diese Inhalte lassen sich nur dann gut verarbeiten, wenn darüber gesprochen werden kann die Medienkompetenz trainiert wird.

Prävention von Gewalt an Kindern ist aber auch immer eine Frage des Konzepts: Präventions- und Schutzkonzepte sollten die Basis des pädagogischen Alltags sein. Leider sind sie Mangelware in österreichischen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen.

Schutzkonzepte werden dabei als Schutzprozesse (vgl. Schröer, Wolff, 2018) verstanden, in denen Machtbeziehungen- und Strukturen reflektiert und Beteiligungsstrukturen und Beschwerdemechanismen etabliert werden. Im Mittelpunkt des Schutzprozesses steht die Gewährleistung der Beteiligungs-, Förder- und Schutzrechte von Kindern und Jugendlichen und deren Choice-, Voice- und Exit-Optionen (vgl. Schröer, Wolff, 2018).

Um Kinder vor sexualisierter Gewalt zu schützen und Betroffenen rasch Hilfe zu bieten, braucht es ein Klima in unserer Gesellschaft, in dem offen über die Themen Sexualität und Gewalt gesprochen werden kann, es eine Sprache für diese Phänomene gibt, ein Klima indem Betroffene von sexualisierter Gewalt sich nicht rechtfertigen müssen, sondern Täter:innen zur Verantwortung gezogen werden.

Anstatt danach zu fragen, warum jemanden etwas passiert ist, sollte danach gefragt werden, warum jemand so etwas tut und welche gesellschaftlichen Strukturen ihm:ihr das ermöglichen.

Literatur

  • [1] Harder, C.; Oppermann, C.; Schröer, W. (Hrsg.); Winter, V.; Wolff, M.: Lehrbuch Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen. Beltz Juventa, 2018

Weiterführende Informationen