Coming of Age in Zeiten der Pandemie - Tanz- und gestalttherapeutische Perspektiven zu Unterstützung Jugendlicher

Portraits Annemarie Schweighofer-Brauer und Annette Piscantor

Annemarie Schweighofer-Brauer und Annette Piscantor beschreiben in diesem Artikel, wie sich die Covid 19 Pandemie und die Maßnahmen zur Eindämmung der Virusübertragung auf verschiedene Weise auf die Lebenswelten und Lebensmöglichkeiten von Jugendlichen auswirkten. Studien belegen, dass viele Jugendliche psychisch, physisch und sozial betroffen sind. Im Rahmen des Regionalprojekts 2022 der Plattform gegen die Gewalt in der Familie bot das Institut FBI eine Schulung für Fachleute in der Jugendarbeit an. Für die Schulung wurde eine tanz- und gestalttherapeutisch angeregte Methodologie zur Unterstützung von Jugendlichen erarbeitet, die laufend weiterentwickelt werden soll.

Autorinnen: 
Mag.a Dr.in Annemarie Schweighofer-Brauer, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft; Mitarbeiterin des AWO Kreisverbands Wesel (DE); Honorarkraft des Instituts für gesellschafts­wissenschaftliche Forschung, Bildung und Information (FBI) (AT); freiberufliche Erwachsenen­bildnerin; HPP, Gestalttherapie. 
Annette Piscantor, Studium der freien Kunst (B.F.A.); Tanzpädagogin, Leitung der Tanzwerkstatt an der Dom-Musikschule Xanten e.V., Tanztherapeutin (DITAT, Bonn); freischaffende Künstlerin und Lehrbeauftragte für Perfomance Art an der Hochschule der bildenden Künste Essen (HBK Essen).

Thema November 2022

Die Pandemiekrise und ihre Folgen für Jugendliche

Krisenerfahrungen

Das Wort Krise kommt aus dem Altgriechischen, das Verb dazu ist krinein: scheiden, sondern, trennen. Der Begriff Krise findet sowohl fach- als auch alltagssprachlich Gebrauch.

Was meint "Krise" psychologisch? Ein (inneres/äußeres) System, gewohnte Abläufe, eine Beziehung oder ein Beziehungsgeflecht geraten in Veränderung. Das kann durch Konflikte, Katastrophen oder neue Pläne ausgelöst werden. Es kann als schwierig, traumatisch und verstörend erlebt werden.

Eine Krise kann aber auch durch eine bewusst in Angriff genommene oder herbeigesehnte Veränderung entstehen, durch die sich eine unerwartete soziale, emotionale oder physische Eigendynamik entfaltet. Veränderungen erfordern Anpassungen und fordern die individuellen oder gemeinschaftlichen Bewältigungsmöglichkeiten heraus. Wenn die gewohnten Mittel zur Anpassung (gerade nicht) genügen, müssen sie adaptiert, müssen neue erfunden oder ausgehandelt werden.

Die Krise im engeren Sinne entsteht am Weg und vor allem am Höhepunkt einer Veränderungsdynamik. In der Krise entscheidet sich, in welche Richtung die Entwicklung weitergeht: Wird die Krise chronisch? Führt sie in die Katastrophe? Wird die Krise bewältigt und wird aus ihr gelernt?

Coming of Age – eine krisenreiche Lebensphase

Das Coming of Age - die Lebensphase des Übergangs vom Kind zum:r Erwachsenen - erleben junge Menschen in verschiedener Hinsicht als krisenhaft. Der eigene Körper, die Emotionen, die Welt im Kopf, die Bezüge zur Familie, zu Peergruppen, zu Freund:innen verändern sich und geraten in Krisen.

Sich körperlich nicht wiedererkennen und neu kennenlernen, in sich hineinwachsen oder in das, was ein junger Mensch sein soll oder will, einen Platz in der Welt und in den Beziehungen finden, sich sexuell entdecken und in Kontakt kommen, sich neu verstehen und identifizieren, sich von Bezugspersonen der Kindheit abnabeln und in die Welt hinausgehen (die nicht unbedingt auf einen gewartet hat), all das kann krisenintensive Prozesse generieren.

Gleichzeitig geraten ohne das Zutun der Jugendlichen ihre Familien, Eltern, Menschen und Systeme in ihrer Umgebung in Krisen, die ihr Leben beeinflussen und verändern (z. B. durch eine Scheidung oder Arbeitslosigkeit der Eltern).

Während der letzten Jahre widerfahren Jugendlichen im globalen Nord-Westen (in anderen Weltgegenden immer schon) Krisen, die die ganze Gesellschaft massiv betreffen, ausgelöst durch die Pandemie, den Krieg, die zunehmend spürbare Klimaveränderung, die Verteuerung von Mitteln zum Leben. Jugendliche aus benachteiligten sozialen Klassen erleben Krisen existentieller Not durch Preissteigerungen, schlecht bezahlte Arbeit und Arbeitslosigkeit.

Sensible Entwicklungsphasen

Menschen kommen nicht "fertig" zur Welt. Körperlich, psychisch und sozial wachsen, reifen und lernen sie. Für Krisensituationen sind sie bei der Geburt nicht optimal ausgestattet. Sie brauchen die Co-Regulation durch enge Bezugspersonen, deren Schutz, Pflege, Versorgung, Körperkontakt, liebevolle Zuwendung und sorgsame Aufmerksamkeit.

In den ersten Lebensjahren reifen bei Menschen neuronale Systeme und Gehirnareale aus, die das Bindungsverhalten, das soziale Engagement, die (gemeinschaftliche) Stressregulation und das Vertrauen in die und in der Gemeinschaft mit regeln. Für diese sensible Reifungsphase brauchen Menschen ein günstiges Milieu und stimulierende Impulse.

In späteren Entwicklungsphasen "trainieren" Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene das Gelernte, ihre Bewältigungskompetenzen und die dazugehörigen Nervenverbindungen. Gleichzeitig werden diese mit neuen altersgemäßen Entwicklungsanforderungen neu modelliert, verändert und erweitert, z. B. wenn Menschen während der Adoleszenz ihre Autonomie ausdehnen und erproben.

Wenn dies ausreichend gelingt und in verschiedenen Situationen angepasst und verinnerlicht wird, ist ein Mensch muskulär, neuronal, emotional und sozial darauf vorbereitet, an die Grenzen gehende Anforderungen zu bewältigen. Überforderungen können zumindest für einige Zeit ausgehalten werden. Das wird als Resilienz bezeichnet.

Während Erwachsene mit gut ausgebildeten Bewältigungskompetenzen sich an soziale Durststrecken anpassen und solche Situationen und Zeiten durchstehen können, sind Kinder und Jugendliche noch nicht/weniger dazu in der Lage. Sie haben die entsprechenden sensiblen Entwicklungsphasen noch nicht durchgemacht, in denen sie passende Bewältigungsstrategien entwickeln und vertiefen. Sie brauchen andere (erfahrenere) Menschen, die sie unterstützen, ihnen Halt geben und zur Seite stehen, sie auffangen, wenn es misslingt. Dabei lernen sie, wie es gehen könnte.

Pandemiefolgen für Jugendliche

Zur Pandemiebekämpfung wurden seit 2020 Maßnahmen getroffen wie Schulschließungen, Lockdowns und Kontaktbeschränkungen. Diese Maßnahmen haben für Jugendliche, die in ihrer Lebensphase besondere Entwicklungsmöglichkeiten und auch -anforderungen erleben, Folgen. Sie erschwerten das Weltentdecken und das Erleben von Beziehungen außerhalb der Familie, verschlossene Begegnungsräume mit Peers wie die Schule, den Sportverein, zeitweise auch den Wald oder die Straße.

Die Angst vor Erkrankung und die Angst, Fehler zu machen und schuldig zu werden, erschütterten das Vertrauen in den eigenen Körper und brachte die Jugendlichen in psychische Ambivalenzen. Die Ambivalenz, sich und andere nicht gefährden zu wollen auf der einen Seite und den eigenen jugendlichen Bedürfnissen nachzugehen auf der anderen Seite, stellte hohe Anforderungen.

Unterstützung beim Lernen durch die Schule oder Nachmittagsbetreuung fiel für viele Jugendliche, die das benötigten, weg, und damit oft die Motivation überhaupt zu lernen und das Vertrauen ins Weiterkommen. Orte wurden unzugänglich, an denen z. B. Lehrer:innen oder Jugendarbeiter:innen noch einmal ein Auge darauf haben, wie es den jungen Menschen geht, ob sie zu Hause gut behandelt werden.

Statistiken besagen, mehr Jugendliche als vorher waren Gewalttätigkeiten durch ihre Erziehungsverantwortlichen ausgesetzt (siehe dazu genaueres im nächsten Abschnitt). In kleinen Wohnungen eskalierten Konflikte, die Familienmitglieder hatten keinen Privatraum und es gab keinen Weg nach draußen. Junge Menschen mussten immer wieder Strafen zahlen, wenn sie sich in kleinen Gruppen dennoch draußen trafen.

Jugendliche erlebten eine essentielle Erschütterung ihres Vertrauens in Menschen, ins Leben, in sich selbst und sie erlebten Stillstand, sie erlebten sich als blockiert. Viele Jugendliche fanden dennoch einen guten Weg durch diese Zeit. Sozial benachteiligte Jugendliche litten im Durchschnitt jedoch deutlich mehr als privilegiertere.

Psychosoziale Folgen zeigen sich in den Kinder- und Jugendlichenpsychiatrien, bei Therapeut:innen und in Beratungsstellen in Form von psychischen Erkrankungen (wie Depressionen, Suizidalität, Angststörungen, Zwangsstörungen, Essstörungen, Traumafolgestörungen).

Jugendarbeiter:innen und Lehrer:innen berichten, dass die Konfliktfähigkeit der Jugendlichen abgenommen habe; dass viele bildungsmäßig abgehängt wurden; dass sie soziale Ängste entwickelt hätten bis hin zum Rückzug aus den Peergruppen und aus der Schule.

Weiter berichten sie, dass bei vielen Jugendlichen die große Bereitschaft, alle Maßnahmen mitzutragen, zu helfen und die eigenen Bedürfnisse zurück zu stellen, irgendwann in Wut umschlug, dass Jugendliche "ausbrachen". Vermehrter Drogenmissbrauch, exzessiver Medienkonsum, Rückgang der Bewegungslust und sportlicher Aktivität sowie Gewichtszunahme, sind weitere Wahrnehmungen, die Fachleute aufführen und die durch Studien bestätigt werden.

Eine in Deutschland durchgeführte "Vertrauensstudie 2022" (vgl. Bepanthen-Kinderförderung: Vertrauensstudie 2022) ging der Frage nach: Wie vertrauensvoll blicken Kinder und Jugendliche auf sich selbst, auf andere und auf die Zukunft unserer Gesellschaft? 
Sie zeitigt besorgniserregende Ergebnisse:

  • Ungefähr ein Viertel der Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren gibt an, wenig Selbstvertrauen zu haben, zwei Drittel äußern, nicht in andere zu vertrauen. Ein Drittel glaubt an Verschwörungstheorien und vermutet, dass Medien absichtlich falsch informieren.
  • Mädchen sind misstrauischer als Jungen, Jugendliche viel misstrauischer als Kinder. Der Glaube an Verschwörungstheorien wird durch das Elternhaus geprägt.

Links zu den Studien finden sich im Anschluss an diesen Beitrag.

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Fachleute der Kinder- und Jugendarbeit befürchteten während der Pandemie, dass durch Lockdowns und Kontaktbeschränkungen, durch angespanntere Situationen in vielen Familien die physische, psychische und sexuelle Gewalt gegen Kinder zunehmen könnte. Inzwischen veröffentlichte Zahlen des deutschen Bundeskriminalamtes bestätigen diese Befürchtungen für Deutschland.

"Laut PKS sind im Jahr 2020 152 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen. 115 von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. In 134 Fällen erfolgte ein Tötungsversuch. Mit 4.918 Fällen von Misshandlungen Schutzbefohlener wurde eine Zunahme um 10 % im Vergleich zum Vorjahr registriert. Kindesmissbrauch ist um 6,8 % auf über 14.500 Fälle gestiegen. Stark angestiegen sind mit 53 % auf 18.761 Fälle die Zahlen bei Missbrauchsabbildungen, sogenannter Kinderpornografie.
Auch die starke Zunahme bei der Verbreitung von Missbrauchsabbildungen durch Minderjährige war in 2020 besorgniserregend: Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsabbildungen - insbesondere in Sozialen Medien - weiterverbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, in Deutschland seit 2018 mehr als verfünffacht - von damals 1.373 auf 7.643 angezeigte Fälle im vergangenen Jahr." (vgl. BKA: Vor­stel­lung der Zah­len kind­li­cher Ge­wal­top­fer – Aus­wer­tung der Polizei­lichen Kriminal­statistik (PKS) 2020).

Die Zahl der ermordeten Kinder stieg 2020 auf 152. 2019 wurden demgegenüber 112 Kinder ermordet (vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland – Kriminalstatistik: 2019 wurden 112 Kinder in Deutschland getötet). Das deutsche Bundesamt für Statistik stellt auf der Basis von Zahlen aus den Jugendämtern fest, dass 2020 der höchste Stand an gemeldeten Kindeswohlgefährdungen seit Bestand der entsprechenden Statistik erreicht wurde.

Ähnliches wird auch für Österreich beschrieben oder vermutet (Die moewe – Aktuelle Studie zum Thema Gewalt an Kindern; Vienna.at – Auswirkungen des Corona-Lockdowns auf Kinder werden sich erst zeigen).

Eine vom Kinderschutzzentrum die möwe beauftragte Studie, veröffentlicht im Dezember 2020, kommt für Österreich zum Ergebnis, dass die Gewalt gegen Kinder während der Pandemie wahrscheinlich zugenommen hat (vgl. Die möwe präsentiert aktuelle Studie zum Thema Gewalt an Kindern). In den Beiträgen vom Dezember 2021 und vom August 2022 in "Themen des Monats" auf dieser Website sprechen Eva Krainer und Maria Rösslhumer die Zunahme häuslicher Gewalt an, die Frauen und Mädchen widerfährt.

Tanz- und gestalttherapeutische Unterstützung von Jugendlichen, die unter Pandemiefolgen leiden

Fachleute in der Jugendarbeit stehen vor der Herausforderung, Jugendliche in Krisen zu unterstützen, um sich zu stabilisieren, heilsame Bewältigungs- und Wirksamkeitserfahrungen zu machen und neue Bewältigungsweisen zu entwickeln.

Im Kontext des diesjährigen Regionalprojekts für die Plattform gegen die Gewalt in der Familie des Instituts FBI befassten wir uns damit. Wir entwickelten eine Methodologie zur tanz- und gestaltpädagogischen Begleitung von Jugendlichen auf der Basis von Tanz- und Gestalttherapie. In diesem Artikel beschreiben wir deren Grundlagen. Eine ausführliche methodische Anleitung sprengt den Rahmen dieses Formats und soll im Rahmen von Fortbildungen vermittelt werden.

Wertegrundlagen humanistischer Therapien

Tanz- und Gestalttherapie gehören zum Spektrum der humanistischen Therapien. Sie gehen also von einem "optimistischen" Menschenbild aus: Menschen sind grundsätzlich auf der Welt, um ihre kreativen Potentiale, ihr einzigartiges Wesen zu entfalten und ihre Welt mitzugestalten.

Humanistische Therapien lenken die Aufmerksamkeit auf die Potentiale von Menschen und auf Lösungsmöglichkeiten für ihre Verwicklungen, Krisen und Probleme im Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte.

Beispielhaft führen wir hier die 3 Axiome an, die Ruth Cohn (Erfinderin der Themenzentrierten Interaktion (TZI), Gestalttherapeutin) als Wertegrundlage der TZI formulierte:

  1. Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit und ein Teil des Universums. Er ist darum gleicherweise autonom und interdependent. Die Autonomie des einzelnen ist um so größer, je mehr er sich seiner Interdependenz mit allem und jeden bewusst wird.
  2. Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidungen. Das Humane ist wertvoll, Inhumanes ist wertbedrohend.
  3. Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen; Erweiterung dieser Grenzen ist möglich. 

Bemerkungen zu den Mindsets der Gestalttherapie und der Tanztherapie

Menschen müssen Bedürfnisse befriedigen, um zu leben und zu überleben. Menschen brauchen Sauerstoff, Nahrung, Flüssigkeit, schützende Kleidung, Unterkunft, Bewegung. Als soziale Wesen brauchen Menschen die Verbundenheit mit anderen Menschen oder Tieren, Kontakt und Austausch. Menschen brauchen die Möglichkeit ihre Lebensräume zu gestalten, sich als wirksam zu erleben. Menschen passen sich dabei an ihre Welt, an ihre aktuelle Umwelt an und setzen sich mit ihr auseinander.

Die Gestalttherapie versteht unbefriedigte oder verletzte Bedürfnisse als "Gestalten", die innerlich unvollendet geblieben sind. Ein unbefriedigtes Bedürfnis (Mangel) oder ein verletztes Bedürfnis macht sich bemerkbar, beispielsweise als körperliche Empfindung (wie Hunger, Schmerz), als Emotion (wie Unruhe, Aufregung) oder als Gefühl (wie Angst, Trauer).

Empfindungen, Emotionen, Gefühle und auch innere Impulse sind sozusagen die Sprache der Bedürfnisse. In der Terminologie der Gestalttherapie drängen sich Bedürfnisse, die befriedigt werden möchten, als "unvollendete Gestalten" aus dem "Hintergrund" des Lebens in den Vordergrund der Wahrnehmung. Ich bemerke etwa meinen lauter werdenden Hunger, während andere Empfindungen und Gefühle in den Hintergrund rücken; oder ich leide zunehmend unter einem lauten Geräusch, während alles andere zweitrangig wird.

Wenn der Wunsch nach Befriedigung (zu oft) enttäuscht wird, kommt es vor, dass Bedürfnisse weggeschoben, abgespalten und nicht mehr gespürt werden.
Die unvollendete Gestalt findet Vollendung oder sie tritt unvollendet wieder in den Hintergrund.

Was tun Gestalttherapeut:innen damit?

Sie unterstützen Menschen zunächst dabei, sich selbst zu spüren, wahrzunehmen und kennenzulernen – dazu braucht es laut Gestalttherapie "Awareness". Menschen lernen sich in ihren Empfindungen, ihrem Spüren und Fühlen genauer, besser, feiner kennen und sie finden eine Sprache, Wörter für dieses Erleben.

Die Wörter machen das Erleben bewusster und zugänglicher. Wie in der Psychoanalyse und wie in allen humanistischen Psychotherapieformen sind Introspektionsfähigkeit und die Fähigkeit zur Versprachlichung innerer Vorgänge hilfreiche Werkzeuge. Diese Werkzeuge werden entwickelt und geübt. Aus dem bewussten Erleben, dessen Benennung und Reflexion, den Erkenntnissen, die sich daraus ergeben, wird Veränderung möglich. Neue Lösungswege öffnen sich. Die Gestalttherapie begleitet Menschen bei der Suche und beim Entwickeln von Lösungen und ermutigt sie, Lösungen auszuprobieren.

Gestalttherapeut:innen bieten Experimente bzw. Übungen an, mit denen sich Menschen gegenwärtig erleben. Sie bieten Deutungen oder Sinngebungen an, ohne diese als Wahrheit aufzudrängen. Gestalttherapie regt dazu an, dass Menschen mit sich, mit anderen Menschen und mit der Welt in Kontakt kommen. Der Kontakt mit anderen und mit der Welt passiert an meiner Grenze. Es geht darum, Individuierung/Autonomie mit Kontakt/Beziehung/Interdependenz auszubalancieren.

Die Tanztherapie, die hier auf dem tiefenpsychologisch orientierten Ansatz des Deutschen Instituts für Tanz- und Ausdruckstherapie fußt, geht von einer ganzheitlichen Auffassung vom Menschen aus. Bewegen, Denken, Fühlen, Handeln, Sprechen und Denken bilden eine Einheit. In der gestischen, mimischen oder ganzkörperlichen Ausdrucksweise können sich Anteile innerer Bewegtheit zeigen. Ebenso können Bilder, Worte oder Tänze Aspekte unseres emotionalen Erlebens transportieren, ohne dass es dafür direkte Erklärungen und rationale Einordnungen benötigt.

Die Tanztherapie nutzt den kreativen Selbstausdruck mit dem Ziel, zu einer physischen und psychischen Integration des Menschen beizutragen. Sprache wird zur kognitiven Einordnung des Erlebens wichtig, aber ebenfalls als kreatives Medium verstanden und in der Tanz- und Ausdruckstherapie nutzbar gemacht. Nonverbale sowie verbale Aspekte werden in therapeutischen Interaktionen verknüpft – das ist die Essenz des künstlerischen Prozesses in der Tanz- und Ausdruckstherapie.

Ein Ausgangspunkt für die Theoriebildung und Methodik ist die Annahme, dass in unserem Bewegungs- und Ausdrucksrepertoire im Hier und Jetzt auch alte Beziehungsmuster eingeschmolzen sind, Bewegungsmuster sozusagen, die wir in bewegten Dialogen, sogenannten Handlungsdialogen in therapeutischen Situationen wiederbeleben können.

Die tiefenpsychologische Fundierung bezieht sich auf die psychoanalytische Annahme, dass in jedem Menschen ein dynamisch wirkendes Unbewusstes enthalten ist. Seelische Verletzungen und Enttäuschungen sowie glückliche und befriedigende Momente aus unserem Leben sind dementsprechend in unser gesamtes Ausdrucksinventar eingegangen. So entwickeln sich in tanz-, bewegungs- und ausdruckstherapeutischen Settings einfache oder komplexe Handlungsdialoge, in denen manchmal der Sinn von Lebenshandlungen verborgen ist.

Der Tanz wird dann zum Symbol, er enthält Bedeutungen und Geschichten. Gelingt es dem Menschen, sich seines Ausdrucksrepertoires in der Bewegung, im Bild oder durch Sprache gewahr zu werden, so können dadurch oft auch "vergessene Gefühle" auftauchen und in ihrer unbewussten Bedeutung verstanden und verarbeitet werden.

In diesem Kontext zeigen sich auf der körperlichen Ebene die coronabedingten Defizite. Kontakteinschränkungen und mangelnde Entfaltungsmöglichkeiten auf allen Ebenen hinterlassen körperliche Spuren. Sie werden mit den Mitteln der Tanztherapie aufgespürt, analysiert und durch neue Erfahrungen transformiert. Der Kontakt zu sich selbst und zu anderen wird neu belebt und angereichert.

Tanz- und gestaltpädagogische Unterstützung von Jugendlichen

Die gestalt- und tanztherapeutische Methodologie zur Unterstützung Jugendlicher auf pädagogischer Ebene, zu der wir anregen, setzt an den Dimensionen Körper, Raum und Beziehung an. Wie oben dargelegt, haben die Ansteckungsgefahr und die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung junge Menschen mit den Entwicklungsaufgaben ihrer Lebensphase spezifisch betroffen.

Körpererfahren und sich körperlich selbst neu kennenlernen, außerhalb der vertrauen (Familien)Räume neue Räume erkunden und gewinnen, Beziehungen relativ unbeschwert eingehen und ausleben, gerade auch in Gruppen - all das war nicht möglich oder nur in einer Gefahrenzone.

Jugendliche erlebten und erleben Krisen der Körperlichkeit (Erkrankung, Erkrankungsangst, Stress, Dissoziation, Bewegungsmangel etc.), der räumlichen Entfaltung (Lockdown, Homeschooling, Verschlossenheit von Räumen) und der Beziehungen (Kontaktbeschränkungen, Angst sich und/oder andere anzustecken, räumlich-körperliche Distanzierung während Begegnungen). Das hinterlässt Spuren und Verletzungen, die geheilt werden wollen.

Die Dimensionen Körper, Raum und Beziehung bilden ein Kontinuum: Menschsein ist körperlich. Körperlich bin ich ein Raum und befinde ich mich in Räumen. Ich beziehe mich in meinen Bewegungen auf Räume, verhalte und erfahre ich mich in ihnen. Raumqualitäten entstehen aus aufeinander bezogenen, in Verhältnissen stehenden Körpern, Dingen, Schwingungen. In Räumen bin ich mit mir und mit anderen Menschen in Beziehung. Die Beziehungsqualitäten entstehen mit der Befindlichkeit und den Handlungen der Menschen, die sich aufeinander beziehen. Auf die jeweilige Dimension zu fokussieren, geschieht im Bewusstsein der ganzheitlichen Verbundenheit dieser Dimensionen. Gestalttherapeutisch gesprochen verweben sie sich zu "Gestalten".

Die Methodologie, die wir Fachleuten aus der Jugendarbeit anbieten, soll zum einen das Potential der Co-Regulation bewusster machen. Mit dem eigenen Atmen, mit dem Rhythmus von (muskulärem) Anspannen-Entspannen, Halten-Loslassen und Zusammenziehen-Ausdehnen können Menschen einander "mitnehmen". Mit ihrer Stimme, Haltung, der Modulierung der benannten Rhythmen können Menschen andere Menschen mit-beruhigen.

Einander "mitnehmen" machen Menschen ohnehin – und zwar in jede Richtung. Menschen "triggern" einander. Dies wird gestalt- und tanztherapeutisch erlebt, reflektiert und bewusster gemacht. Co-regulative Verhaltensweisen werden erprobt.
Zum anderen beinhaltet die Methodologie Übungen und Spiele zur körperlichen Stabilisierung, Spielraumerweiterung und Beziehungsgestaltung für Jugendliche.

Mit der Erkundung der Körperdimension wird die Selbstwahrnehmung verstärkt und verfeinert. Es werden Methoden eingeübt, die bei Unruhe, Angst oder Verunsicherung das Balancieren zur Ruhe, Gelassenheit und Stabilität erleichtern. Empfindungen und Emotionen im eigenen Körper sollen bewusster wahrgenommen und verbalisiert werden. Diese Wahrnehmung wird gefördert und Wörter für das Wahrgenommene werden gesucht und gefunden.

Körpergrenzen werden erkundet. Mit den Körpergrenzen soll das körperliche Kohärenzgefühl gestärkt werden. Gestalttherapeutisch gesprochen: Ich erlebe mich als sinnvoll zusammengehörende Gestalt, auch wenn ich unterscheidbare, manchmal sogar auseinanderstrebende Regungen spüre. Ich gehöre zusammen, bin in mir verbunden.

Und ich bin stets eingebunden in einen Raum. Mit Übungen aus der Tanztherapie und künstlerischen Arbeit mit dem Raum werden die Sinne dafür sensibilisiert.

  • Wo befinde ich mich?
  • In welcher Relation zum Raum?
  • Was ist mein "Umfeld"?
  • Wie ist die Wechselwirkung zwischen meinem Innenraum und dem Außenraum?

Das Bewusstsein für den dreidimensionalen Raum und die eigene Körperlichkeit hat durch den nochmal verstärkten digitalen Überhang während Corona gelitten.

Entsprechende Übungen helfen, sich selbst wieder als vitales Wesen im Hier und Jetzt wahrzunehmen und zu verankern. Darüber hinaus lassen sich gestalterisch und tänzerisch neue Räume erkunden. Verbunden damit werden Wege ausprobiert, Hindernisse ausgemacht und bewältigt, Wünsche und Erwartungen durchgespielt und Bewältigungsstrategien erprobt.

Für die Beziehungsdimension wird durch entsprechende Spiele und Übungen das körperlich-psychisch-soziale Erleben von Nähe und Distanz angeregt. Dieses Erleben wird wiederum reflektiert und in Worte gefasst. Es wird im Gruppenaustausch verglichen, sodass die Vielheit möglicher Erfahrungsweisen zum Ausdruck kommt.

Aus der Vielheit der Personen, Eindrücke, Erlebensweisen, Erfahrungen wächst eine Gestalt, die die jeweilige Gruppe ausmacht. Auch das wird besprochen und reflektiert. Das Kontaktaufnehmen mit anderen Menschen an der eigenen körperlichen und emotionalen Grenze, die Bezugnahme aufeinander im Raum wird durch Übungen und Spiele angeregt.

Das Erleben wird wiederum reflektiert und ins Bewusstsein geschoben und es werden Wörter für dieses Erleben gesucht. Weiter werden Übungen angeboten, in denen eigene spontane Verhaltensweise und Reaktionen in Konflikten bewusster und reflektierbar werden. Neue Verhaltensweisen werden ausprobiert.

Die jeweils angebotenen Methoden, Übungen und Spiele zu den drei Dimensionen werden zuerst ausprobiert und dabei erleben die Jugendlichen sich selbst. Das konkret Erlebte wird in der Gruppe (oder im Einzelgespräch mit der Fachkraft) erzählt und ausgetauscht; es wird mit bisherigen Erfahrungen in Bezug gesetzt, also reflektiert.

Schließlich werden individuelle oder auch mehrere Menschen betreffende Erkenntnisse daraus gezogen. Die Erkenntnisse können in Form von Vorhaben, nächsten Schritten oder bewusst einzuübenden neuen Verhaltensweisen in die Zukunft mitgenommen werden.

Literatur

  • [1] Baer, Udo/Koch, Claus: Corona in der Seele. Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft Klett-Cotta, 2021
  • [2] Dohmen, Dieter/Hurrelmann, Klaus: Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden BeltzJuventa, 2021
  • [3] Gravelmann, Reinhold: Jugend in der Krise: Die Pandemie und ihre Auswirkungen BeltzJuventa, 2022
  • [4] Hafeneger, Benno: Jugend und Jugendarbeit in Zeiten von Corona, Die offene Kinder- und Jugendarbeit in der Coronakrise wochenschau Verlag, 2021
  • [5] Heinzlmaier, Bernhard: Generation Corona. Über das Erwachsenwerden in einer gespaltenen Gesellschaft hirnkost, 2021
  • [6] Voigts, Gunda/Blohm, Thurik: Offene Kinder- und Jugendarbeiten in Corona-Zeiten aus der Sicht von Fachkräften. Eine empirische Studie zur Situation in Hamburg Verlag Barbara Budrich, 2022

Studien zur Wahrnehmung junger Menschen ihrer Situation

Weiterführende Informationen