Was für eine Geschichte?! – Erzählende, therapeutische und künstlerische Handlungen einer Kultur des Erinnerns

Portrait Brigitte Tauchner

Brigitte Tauchner schildert ihre Teilnahme an einem Symposium, das sich in sehr spezieller Art und Weise mit Erinnerung auseinandersetzte. Die Veranstaltung war eine Zusammenarbeit von Die Intervention - Kulturelle Handlungen mit Institut APSYS. Institut für Systemische Praxis, gefördert vom Land Steiermark, Ressort Bildung und Gesellschaft.

Autorin: Brigitte Tauchner ist Leiterin des SOG Theaters, Schauspielerin, Theaterpädagogin, Trainerin in der Erwachsenenbildung und Basisbildung, systemische Coach

Thema Dezember 2019

"Was für eine Geschichte?! – Erzählende, therapeutische und künstlerische Handlungen einer Kultur des Erinnerns" war in unterschiedlichen Formaten über mehrere Tage angelegt:

Es gab zwei erzähl_Mahl Tischgespräche am 18. und 20. September 2019. Einen Abend mit Playbacktheater des SOG Theaters und Vortrag von Luise Reddemann, Begründerin der Psychodynamisch Imaginativen Trauma Therapie (PITT) am 21. September 2019 und einen ganztägigen Workshop mit Luise Reddemann am 22. September 2019.

Die Veranstaltung war eine Zusammenarbeit von Die Intervention - Kulturelle Handlungen mit Institut APSYS. Institut für Systemische Praxis, gefördert vom Land Steiermark, Ressort Bildung und Gesellschaft.

Inhaltliche Überlegungen

Die Geschichte von zwei Weltkriegen, Nationalsozialismus und Holocaust wirkt bis heute in unserer Gesellschaft, in Familien und im individuellen Leben von Menschen weiter. Bei den Zeitzeugen/Zeitzeuginnen, die Krieg und Nachkriegsjahre als junge Menschen erlebt haben kehren jetzt im Alter oft belastende Erinnerungen zurück. Und auch die jüngeren Generationen spüren - "Da hat etwas Auswirkungen auf mein Leben, das vor meiner Zeit geschehen ist."

Unsere Gesellschaft hat sich in den vergangenen vier Jahren verändert. Angst, Abwertung, Rassismus und Nationalismus machen sich groß. Die Vermutung liegt nahe, dass auch mit unserer nicht angenommenen Vergangenheit zu tun hat. Dass zwar die Fakten historisch weitgehend geordnet sind, aber wichtige Geschichten des Erlebens und der Emotionen noch nicht ihren guten Platz haben. Wie ein Vergessen des Erinnerns im Gedenken. Wenn das so ist, was können wir tun?

Ein Beitrag ist der einer lebendigen, gemeinschaftlichen Kultur des Erinnerns - als politische Handlung für eine Zukunft in Demokratie, Vielfalt und Freiheit. Als solcher Beitrag eröffnete das Symposium mit verschiedenen Formaten dem Erzählen als kulturelle Handlung einen Resonanzraum.

SOG Theater beschäftigt sich in den verschiedensten Feldern mit Erzählkreisarbeit, Erinnerungs- und Generationentheater vom interkulturellen Dialog bis hin zur Arbeit mit Menschen mit Diagnose Demenz. Mit verschiedenen Theaterformen in Verbindung mit Biographiearbeit geben wir den Erzählungen und Geschichten der Menschen einen besonderen Fokus und wirken in unseren Projekten generationenübergreifend und verbindend.

Die Zusammenarbeit mit den Veranstalter:innen des Symposiums war daher in einer besonderen Art befruchtend und vernetzend.

"Auch in unserer Arbeit geht das Erzählen oft über die gewohnten Formen hinaus. Die Geschichten konkreter Gegenstände, das Spiel des Erinnerungstheaters, das Mitwirken in Geschichten anderer, das Verdichten in Poesie ermöglichen einen vielfältigen Dialog, ein Durchfließen der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft" Dorothea Kurteu

Die Formate

erzähl_Mahl Tischgespräche: Zeitgeschichten und Gegenwartserzählungen

Rund um einen Topf mit gutem Essen laden wir zu Gesprächen ein, die unser persönliches, familiäres, freundschaftliches und gesellschaftliches Leben im Kontext eines größeren Rahmens betrachten. Durch persönliche und transgenerationale Erinnerungen und Erzählungen wollen wir gemeinsam forschen, welchen Einfluss zeitgeschichtliche Ereignisse, sozialhistorische Bedingungen und gesellschaftliche Werte und Normen auf unser Leben hatten und haben. Erzählen als kulturelle und politische Handlung: Oft liegen in der Vergangenheit Schätze für die Zukunft.

Der Austausch mit anderen ermöglicht einen erweiterten Blick auf unsere Biografien und Familiengeschichten und dadurch auch auf gesellschaftliche Themen der Gegenwart, persönliche und gemeinschaftliche Handlungsmöglichkeiten im hier und jetzt.

Der gemeinsame Tisch als Raum des Dialogs und des Teilens: Das Erzählen, das Zuhören, das Fragen stehen im Zentrum unserer Gespräche, nicht die Diskussion. Das Essen ist ein schöner und wichtiger Teil. Einfach und schmackhaft zubereitet, meist in einem Topf in der Mitte des Tisches, im Sommer manchmal auch am offenen Feuer, ist es auch ein Bild für das Teilen in Gemeinschaft.

Jeder Abend folgt einem Thema: Uns interessieren zum Beispiel

  • weibliche Berufs-Biografien,
  • die persönliche Demokratie-Geschichte,
  • transgenerationale Folgen von 2.WK und NS-Zeit,
  • der Einfluss von Kirche und Glauben,
  • die Beziehung zu Europa und zur EU genauso wie die zur eigenen Ernährung oder Sexualität,
  • Geschichten und Fragen zu Freundschaft, Solidarität oder Besitz und Teilen
  • ... Themen, bei denen es sich lohnt, einmal einen anderen Blick darauf zu werfen.

Playbacktheater

Sie erzählen. Wir spielen. Erträumtes, Erfundenes, Erinnertes. Playbacktheater nach Jonathan Fox und Jo Salas ist eine improvisierte Form von Theater, im Mittelpunkt stehen Geschichten aus dem Publikum.

Die Moderation bewegt sich zwischen Publikum und Bühne, stellt Fragen, holt Wortmeldungen, Assoziationen und Geschichten zum Thema ein, fasst diese in eine Spielform und übergibt sie dann an das Schauspielteam.

Auf der Bühne setzen vier Schauspieler:innen und eine Musiker:in das Erzählte künstlerisch – assoziativ um. Realistisch und zauberhaft, fließend zwischen Worten und Symbolik. Die Essenz der Geschichte bekommt ein Gesicht, eine Bewegung – und meist auch neue Facetten des Erlebens für die Erzählenden. Durch das Erzählen unserer Geschichten finden wir Identität, unseren Platz in der Welt und unsere Orientierung in ihr.

Playbacktheater fasst so das Bedürfnis der Menschen, ihre Geschichten zu erzählen, in eine wohlwollende, heilende Atmosphäre.

Erinnerungs- und Generationentheater

Die Schauspielerin und Regisseurin Pam Schweitzer erkannte das Bedürfnis vieler älterer Menschen, ihrem verflossenen Leben einen Sinn zu geben, sich auch und gerade am Ende ihres Lebens mit Fragen der Identität zu befassen.

Nach dem Konzept des "lifereview" - der Lebensrückschau - entwickelte sie die "reminiscence work": Mit professionellen Schauspieler:innen wird ein Stück erarbeitet, das auf alltagsgeschichtlichen Erzählungen älterer Menschen - oft auch der Schauspieler:innen selbst - beruht.

Die Erforschung von Biografien und Alltagsgeschichte verknüpft private Geschichte(n) mit größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen. Das Theaterspiel transformiert individuelle Erfahrungen, indem es sie mit anderen Perspektiven verwebt.

Als Teil des kollektiven Gedächtnisses macht es sie einem größeren Publikum zugänglich. Diese Form des Theaters fördert den Dialog - sowohl innerhalb der älteren Generation, als auch zwischen Älteren und Jüngeren.

Literatur

  • [1] Daniel Kehlmann: Ruhm: Ein Roman in neun Geschichten Rowohlt, 2009
  • [2] Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung Suhrkamp, 2016
  • [3] Aleida Assmann: Erinnerungsräume C.H. Beck, 1999
  • [4] Konrad P. Grossmann: Der Fluss des Erzählens Carl-Auer-Systeme Verlag, 2003
  • [5] Carl Auer Lutz Niethammer: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“ Syndikat, 1980
  • [6] Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen Klett Kotta, 2016
  • [7] Jo Salas: Playback-Theater Alexander, 2009
  • [8] Pam Schweitzer, Errollyn Bruce: Das Reminiszenzbuch. Praxisleitfaden zur Biografie- und Erinnerungsarbeit mit alten Menschen Bern Huber, 2010
  • [9] Caroline Osborn, Pam Schweitzer, Angelika Trilling: Erinnern. Eine Anleitung zur Biographiearbeit mit älteren Menschen Lambertus, 1997
  • [10] Angelika Trilling, Errollyn Bruce, Sarah Hodgson, Pam Schweitzer: Erinnerungen pflegen. Unterstützung und Entlastung für Pflegende und Menschen mit Demenz Vincentz, 2001

Weiterführende Informationen