Situative Gewalt – Angebote des WEISSEN RINGS

Portrait Tobias Körtner, WEISSER RING

Opfer von Gewalt zu werden erschüttert das eigene Welt- und Selbstbild und stellt dieses in Frage. Dabei gibt es unterschiedliche Formen und Kontexte von Gewalt. Diese reichen von physischer über psychische Gewalt, Gewalt gegen Sachgegenstände oder gegen Personen, individuelle oder institutionalisierte Gewalt. Medial steht derzeit besonders die Gewalt an Frauen im sozialen Nahraum im Vordergrund. Weniger Beachtung erfahren diejenigen Personen, die außerhalb desselben – also durch Menschen, zu denen keine Beziehung besteht – Opfer werden. Hier ist dann von situativer Gewalt die Rede. Der WEISSE RING berät und begleitet diese Opfer.

Autor: Mag. Dr. Tobias Körtner, Leiter des Fachbereichs Opferhilfe beim Verein WEISSER RING Verbrechensopferhilfe

Thema April 2024

Logo Weisser Ring Verbrechensopferhilfe

Im Fall situativer Gewalt ist das Gewalterlebnis meistens überraschend und unvermittelt. Opfer von situativer Gewalt zu werden bedeutet, von einer Person verletzt oder bedroht zu werden, zu der keine Beziehung besteht. Dies kann im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz oder auch im Internet passieren.

Bis heute ist der Begriff der situativen Gewalt nicht abschließend definiert. Situative Gewalt wird weithin als das Gegenteil der häuslichen Gewalt bzw. der Gewalt in der Privatsphäre (GiP) begriffen. Ausschlaggebend ist die Abwesenheit eines Näheverhältnisses zwischen Täter:in und Opfer [1, Sautner, 2023]. So umfasst er eine riesige Bandbreite an Delikten und Spezialbereichen. Unter situative Gewalt fallen Straftaten vom Handtaschenraub über Körperverletzung bis hin zu Terror oder Hasskriminalität. Situative Gewalt betrifft außerdem sämtliche Alters-, Geschlechts- und Gesellschaftsgruppen. Die überraschend auftretende, bedrohliche Situation reißt Betroffene aus ihrem Leben heraus, raubt ihnen das Sicherheitsgefühl und löst oft langfristige Ängste aus. Reaktionen wie Überängstlichkeit, Panik, unkontrollierbare Erinnerungen (Flashbacks) oder Schlaflosigkeit sind normale Reaktionen auf solch eine außergewöhnliche Situation.

Die Belastungen enden nicht mit dem Erleben einer situativen Straftat. Wie auch für Opfer anderer Gewaltformen, ist für Opfer situativer Gewalt das Bedürfnis nach Anerkennung des erlittenen Unrechts besonders wichtig. Da die Täter:innen jedoch meist unbekannt sind, müssen diese erst ausgeforscht werden. Die Wartezeit, bis das gelingt, kann für Betroffene besonders belastend sein.

Laut § 25 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) [2] müssen bei Gewalt im sozialen Nahraum die Daten der Opfer an die dafür zuständigen Einrichtungen übermittelt werden, damit diese dann die notwendigen Maßnahmen setzen können. Im Fall situativer Gewalt erfolgt keine automatische Benachrichtigung der zuständigen Opferhilfe-Einrichtung. Daher sind Betroffene zumeist in sehr hohem Maße auf sich selbst und ihre Eigeninitiative angewiesen, um ihre Rechte geltend zu machen und Opferhilfe in Anspruch nehmen zu können. Das führt leider immer wieder dazu, dass Opfer situativer Gewalt von ihren Rechten keinen Gebrauch machen können, keine Anträge an das Sozialministeriumservice stellen oder entsprechende Fristen versäumen und so dringend gebrauchte, hilfreiche Unterstützung (wie beispielsweise die kostenlose Prozessbegleitung) nicht erhalten.

Dabei ist von einem großen Dunkelfeld an Fällen situativer Gewalt auszugehen. Wie Prof. Dr. Helmut Hirtenlehner, Leiter des Zentrums Kriminologie der Johannes Kepler Universität in Linz etwa beim Tag der Kriminalitätsopfer 2023 anhand deutscher Daten analysierte, ist der Anteil situativer Gewalt an der insgesamt ausgeübten Gewalt weitaus höher als bisher angenommen. Das gilt sowohl im Hellfeld als auch im Dunkelfeld [3, Hirtenlehner, 2023]. (siehe auch [4,  Situative Gewalt und ihre Bedeutung])

Statistisch betrachtet, macht situative Gewalt jedoch einen großen Teil der Straftaten in Österreich aus. 2021 gab es beispielsweise, laut polizeilicher Kriminalstatistik bei Delikten gegen Leib und Leben in 39,5 % der polizeilich angezeigten Fälle keinerlei Vorbeziehung zwischen Täter:in und Opfer. Bei schweren Delikten mit mehr als dreijähriger Haftstrafendrohung erhöhte sich diese Zahl sogar auf 58,1 %.

2022 wurden in Österreich 78.836 Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht. In 40,2 % bestand dabei kein Naheverhältnis zwischen Täter:in und Opfer. Die polizeiliche Kriminalstatistik 2022 zeigt das Bild von knapp 60 % an Mordfällen, bei denen eine Beziehung zwischen Täter:in und Opfer besteht [5]. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zumindest 40 % der angezeigten Morde zwischen Fremden geschehen, also nicht dem sozialen Nahebereich zuzurechnen sind. Die höchste Rate an situativen Morden laut Statistik haben dabei die Bundesländer Salzburg (45,4 % keine Beziehung) und Wien (43,1 %). Dass die situative Gewalt im städtischen Raum allgemein höher ist, ist hierbei keine neue Beobachtung.

Viele Opfer situativer Gewalt bleiben in ihrer Situation nach Anzeige bei der Polizei allein zurück. Während in Fällen von Gewalt in der Privatsphäre (GiP) ein Betretungs- und Annäherungsverbot gemäß § 38a Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) zum Schutz einer gefährdeten Person verhängt werden kann, gibt es keine vergleichbare Maßnahme im Bereich situativer Gewalt.

Schon die Charakteristika situativer Gewalt machen einen umfassenden Schutz vor derartigen Vorfällen äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Vielmehr muss der Schwerpunkt auf Opferhilfe für Betroffene liegen. Das sind dringende Hilfeleistungen nach einer erlittenen Straftat.

Opfer sind nach einem (oft einmaligen) situativen Gewaltvorfall zumeist in einer Ausnahmesituation. Hinzu kommen Stress und Belastung durch die Aussage bei der Polizei. In einer derartigen Situation können Informationen zu Opferrechten und Angeboten der Opferhilfe überfordern bzw. die Betroffenen können diese für sich nicht einordnen oder aufnehmen.

Situative Gewalt hinterlässt Spuren und es ist daher dringend notwendig, auch für diese Opfer einen besseren Zugang zu ihren Rechten und adäquater Opferhilfe zu schaffen.

Der WEISSE RING stellt Opfer von Straftaten mit ihren Bedürfnissen und Interessen ins Zentrum seiner Arbeit. Er ist gesetzlich als einzige allgemeine Opferhilfe-Einrichtung Österreichs anerkannt und niederschwellig im gesamten Bundesgebiet unter der einheitlichen Nummer 050 50 16 erreichbar. Opferhilfe durch den WEISSEN RING ist für Betroffene kostenlos. Sie reicht vom Erstgespräch über die Beratung bis hin zu finanzieller Hilfe in besonderen, durch eine Straftat ausgelösten Notfällen und Vorfinanzierung von gesetzlichen Leistungen laut Verbrechensopfergesetz. Das Betreuungsangebot richtet sich vor allem an Opfer situativer Gewalt.

Der 1978 gegründete, gemeinnützige Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht,

  • Opfer von Straftaten zu begleiten und zu unterstützen,
  • über Opferrechte zu informieren und
  • sich sowohl für die Einhaltung als auch für die Weiterentwicklung von Opferrechten einzusetzen.

Darüber hinaus wird zu aktuellen Themen der Viktimologie und Opferrechte geforscht und publiziert. Außerdem setzt der WEISSE RING immer wieder Sonderprojekte im Bereich der Opferhilfe um.

WEISSER RING Verbrechensopferhilfe

Telefon: 050 50 16 
Web: www.weisser.ring.at

Literatur

  • [1] Sautner, L. (2023): "Situative Gewalt als Aspekt eines vieldeutigen Gewaltbegriffs". Präsentation am Tag der Kriminalitätsopfer, 2023.
  • [2] Sicherheitspolizeigesetz.
  • [3] Hirtenlehner, H. (2023): "Situative Gewalt in Österreich aus kriminologischer Perspektive". Präsentation am Tag der Kriminalitätsopfer, 2023.
  • [4] Situative Gewalt und ihre Bedeutung (WEISSER RING]
  • [5] Polizeiliche Kriminalstatistik 2022.

Weiterführende Informationen