Gewalt und Alter – Primäre Gewaltprävention mit Fokus auf Pflege- und Betreuungseinrichtungen aus gerontologischer Sicht

Portrait Bettina Bogner-Lipp

Der Artikel spannt einen gerontologischen Bogen über ausgewählte Aspekte präventiver Maßnahmen bis zur Wertekultur – insbesondere in Alten- und Pflegeheimen – und schafft einen Ausblick auf wünschenswerte Entwicklungen.

Gewaltprävention beginnt dort, wo "eigentlich" noch keine alarmierende Situation vorherrscht. Wo "eigentlich" noch alles im grünen Bereich ist und es geradezu wie ein Lückenfüller erscheint, sich dafür Zeit zu nehmen, anstatt sich akuten Problemstellungen zuzuwenden. Es erweist sich jedoch als sinnvoll, neben den engmaschigen und engagierten Maßnahmenpaketen der Gewaltprävention in Einrichtungen der Pflege und Betreuung den Blick auf die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Gewaltvermeidung zu richten.

Das Pro Senectute Beratungstelefon für Gewalt und Alter registriert seit dem nunmehr 10-jährigen Bestehen, wie subtil Gewalt im Alter in Erscheinung tritt und wo die Schwachstellen einer wirksamen Präventionsarbeit in diesem Bereich liegen könnten.

Autorin: Bettina Bogner-Lipp, MA, Gerontologin, bei Pro Senectute im Segment Gewalt gegen Ältere tätig und Betreuung u. a. des Beratungstelefons für Gewalt und Alter.

Thema September 2023

Gewaltprävention unter dem Einfluss des Bevölkerungswandels und Fachpersonalmangels

Überforderung ist der maßgebliche Auslösefaktor für Gewalt im Alter. Sei es im Zusammenhang mit häuslichen Pflege- und Betreuungs­situationen, wo oftmals ohne Übergangs- und Vorbereitungszeit in räumlicher und zeitlicher Enge und in einem Umfeld belasteter familiärer Beziehungen einzelne Personen Betreuungsverantwortung übernehmen, oder sei es im stationären Bereich, wo trotz großartiger Pflegemodelle aufgrund von Personalknappheit und strukturellen Mängeln an deren Umsetzung nicht zu denken ist.

Wenn von Gewaltprävention die Rede ist, muss deshalb trotz zahlreicher professioneller und engagierter Präventionsinitiativen vorab auf die Rahmenbedingungen jeglicher Altersfragen hingewiesen werden. Diese manifestieren sich unmittelbar in der von Pflegekräften weithin kritisierten Nichtentsprechung von Anforderungen und personellen wie auch zeitlichen Ressourcen.

Zahlreiche Altenheime führen leere Zimmer oder wurden überhaupt geschlossen. Auch bei einem erfüllten Personalschlüssel bestehen Engpässe. Die Pflegestufen-Bewertung orientiert sich nach wie vor unverhältnismäßig an körperlichen Fähigkeiten wie Mobilität oder selbständiger Körperpflege, während die psychische und soziale Betreuungszeit von Bewohner:innen mit und ohne Demenz zu wenig berücksichtigt wird. Nicht ohne Grund werden die 5 Grundbedürfnisse von Menschen mit (und ohne) Demenz von Tom Kitwood mit Bindung, Trost, Identität, Beschäftigung und Einbeziehung benannt[1].

Eine Missachtung der zwischenmenschlichen Pflege-und Betreuungsdimension generiert durch die Provokation von forderndem Verhalten seitens der Bewohner:innen letztendlich unweigerlich ein Vielfaches an zeitlichem Aufwand, wofür jedoch die Messinstrumente fehlen und somit Konsequenzen ausbleiben.

Weiters fallen auch im Sollzustand der Personalsituation laufend Krankenstände und Urlaube an, weshalb eine optimale Besetzung so gut wie nie gegeben ist. Die durch die Corona-Pandemie, durch die instabile Weltpolitik, Klima- und Energiekrisen und die nachfolgenden Teuerungswellen eingetretene gesellschaftliche Polarisierung verleiht dem stattfindenden Bevölkerungswandel – hin zu einer durchschnittlich älteren Gesellschaft – zusätzliche Brisanz.

2050 wird die Zahl der über 65jährigen Einwohner:innen Österreichs um rund eine Million mehr betragen als derzeit[2]. Demgegenüber wird laut Prognosen die Zahl der jungen Menschen während dieser Zeitspanne nahezu stagnieren. Die Frage, wie die zu erwartende Nachfrage nach sozialen und pflegerischen Leistungen erfüllt werden soll, ist nicht nur zukunftsbezogen, sondern bereits in der Gegenwart ungelöst.

Gewaltprävention durch Pro Senectute

Dieses Faktum bedingt einen eklatanten und über bisherige Strategien hinausgehenden Handlungsbedarf in der Organisation der künftigen Pflege und Betreuung alter Menschen. Personalmangel in Pflegeberufen wirkt sich spürbar auf das Thema Gewalt und Alter aus.

Überforderung durch zu wenig Personal bei steigenden Berufsanforderungen durch psychische Erkrankungen, Demenz, Langzeitpflege, Digitalisierung, Ökonomisierung etc. äußert sich u. a. auch darin, dass oftmals für die notwendige laufende Befassung mit Präventionsmöglichkeiten sowohl die Zeit als auch die Kraft fehlen.

Ein wesentlicher Faktor für die Gewaltprävention im stationären Bereich, nämlich die ausreichende Selbstfürsorge sowohl im professionellen Umfeld als auch im jeweiligen Privatleben, kommt häufig zu kurz. Die regelhafte Implementierung und entsprechende Honorierung eines/einer Präventionsbeauftragten in jeder Einrichtung wäre deshalb wünschenswert.

Ein entsprechendes Curriculum wurde von Anton Stejskal, MSc, in Zusammenarbeit mit Pro Senectute entwickelt[3]. Mit der Wanderausstellung "Halt. Keine Gewalt"[4] trägt Pro Senectute zur Sensibilisierung für das Thema Gewalt im Alter bei. Die Ausstellung macht in vielen Bezirken Österreichs Station und bietet einen anschaulichen Überblick über Gewalt in Alltagssituationen, im Bereich der Pflege und Betreuung und im strukturellen Bereich.

Auch das Beratungstelefon für Gewalt und Alter (0699 11 2000 99) hat als niederschwellige, vertrauliche und kostenlose Anlaufstelle für alle Anliegen rund um Gewalt und Alter präventiven Charakter.

Darüber hinaus plädiert Pro Senectute für ein dahingehendes Umdenken, dass mit dem Alter einhergehende Gewaltrisikosituationen oder -phasen im Zuge von Krisen, Demenz, Krankheit, Pflegebedürftigkeit etc. im Versorgungssystem nicht als Notfälle bzw. Ausnahmesituation betrachtet, sondern professionell aufgefangen werden.

Subtile Gewaltphänomene und Visionen für Pflegeberufe

Die weitaus häufigste Form von Gewalt im Alter ist psychische/emotionale Gewalt, weitere Gewaltaspekte betreffen körperliche, finanzielle, soziale und sexuelle Gewalt, Vernachlässigung und Einschränkung des freien Willens. Darüber wurde in der gewaltinfo-Rubrik "Thema des Monats" im Zusammenhang mit dem Beratungstelefon für Gewalt und Alter bereits 2022 berichtet[5].

Im stationären Bereich werden seit einigen Jahren die Dokumentation, das Clearing von (potentiellen) Gewaltvorfällen, der Opferschutz und die einschlägigen Fortbildungen forciert. Die Aufarbeitung von Grenzsituationen wie auch Grenzüberschreitungen hin zur Gewalt während der Corona-Pandemie ist ebenfalls eine wesentliche Aufgabe von persönlicher bis rechtsstaatlicher Dimension.

Was die Häufigkeit von nicht strafrechtlich relevanter, "subtiler" Gewalt in Pflege- und Betreuungseinrichtungen betrifft, fehlen jedoch Statistiken und es sind nach wie vor große Unterschiede zwischen den einzelnen Häusern zu verzeichnen, wie sehr die genannten Präventionsmaßnahmen priorisiert werden oder auch nicht.

Eine weiterführende Bewusstseinsarbeit im Sinne der Gewaltprävention in Pflege- und Betreuungseinrichtungen ist eher Vision als Wirklichkeit. Diese Vision beinhaltet ein objektives und tieferes Eingehen auf die Bedürfnisse und Individualitäten von Bewohner:innen und Mitarbeiter:innen, auf räumliche Gegebenheiten und eventuelle Veränderungsmöglichkeiten, auf die Kultur des Miteinanders, des Umgangs mit Fehlern, mit Neuzugängen und mit Abschieden, mit dem Tod; auf die Sprache, die Alltagskommunikation und Pflegehandlungen begleitet, auf die gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung auch anderer Berufsgruppen, auf flexiblere Berufslaufbahnen mit planbaren Auszeiten, Perspektiven der Weiterentwicklung und regelmäßige Super- und Intervision.

Die zu Unrecht beinahe in Vergessenheit geratene, qualitative ethnologische Studie "Fremde Welt Pflegeheim" von Ursula Koch-Straube[6] bringt auf die Spur subtiler Gewaltphänomene jenseits der körperlichen Evidenz und Beweisbarkeit. In ihrer 15-monatigen teilnehmenden Beobachtung in einer Pflege- und Betreuungseinrichtung stellt sie "Fragen nach Ursachen und Zusammenhängen der beobachteten Resignation, der Erstarrung der Gefühle, der Verlust von Freude und Kreativität; der Einschränkung der menschlichen Lebensdimensionen auf die unmittelbare eingegrenzte Gegenwart (…); nach der weitgehenden Negation von Kompetenzen; nach der Zunahme von Aggressivität und sogar Gewalt." (S. 17).

Die Einrichtung wird als soziales System wahrgenommen, unausgesprochene Normen und Gebote werden analysiert. Ohne Straubes Blick auf das Negative zu bewerten und seither stattgefundene Entwicklungen zu negieren, sei auf die in Bezug auf einen potentiellen Boden für Gewalt enorme Bedeutung der Atmosphäre und des menschlichen Klimas innerhalb und zwischen den Berufsgruppen und den Bewohner:innen hingewiesen, was der Führungsaufgabe neben den fachlichen und ökonomischen Aufgaben anspruchsvolle emotionale, ethische und soziale Kompetenzen abfordert, die in der Eignung und Ausbildung mehr Berücksichtigung erfahren sollten.

Eine gesunde Werte- und Präventionskultur erfordert großzügige und umsichtige Strukturen. Auch der Pflegeberuf verdient unter dem Blickpunkt der verantwortungsvollen Rolle, die ihm am Lebensende der alten Menschen zuteil wird, weitaus höhere Anerkennung und Wertschätzung, als sie derzeit erfährt. Mit Würde den letzten Lebensabschnitt und das Lebensende zu begleiten, zählt zu den bedeutsamsten Aufgaben, die ein Mensch wahrnehmen kann, zumal diese Aufgabe mit der Monotonie und dem Stress pflegerischer Routine in Einklang zu bringen ist.

Eine wesentliche Höherstufung des Pflegeberufs sowohl einkommensmäßig als auch ideell mit gleichzeitiger Verbesserung der Arbeitsbedingungen wäre mit großen Erfolgsaussichten in puncto Gewaltprävention verknüpft.

Gewaltprävention und Altersbilder

Demgegenüber ist nach den Alterstheorien der letzten Jahrzehnte, die sich immerhin vom Defizit- und Ausgliederungsmodell hin zur Betonung der Aktivität und der Kompetenzen entwickelt hat, auch das aktuell vorherrschende Altersbild im Sinne der Gewaltprävention zu beleuchten. Als konsum- und reisefreudiger Wirtschaftsfaktor mit ehrenamtlichen Ambitionen sind die "jungen Alten" im Großen und Ganzen eine akzeptierte und mittlerweile positiv konnotierte, sichtbare Gruppe im öffentlichen Leben.

Die pflegebedürftigen "alten Alten", insbesondere Menschen mit Demenz, Multimorbidität, psychischen Erkrankungen und/oder ständiger Bettlägerigkeit werden in der leistungsorientierten Gesellschaft keineswegs als Ressource betrachtet. Die Pflege von alten Menschen ist zweifellos eine äußerst anspruchsvolle und kräfteintensive Aufgabe, bei der auch im stationären Bereich unter dem Einfluss von medial bestätigten, eher negativen Altersbildern die Mitarbeiter:innen der Pflege und Betreuung zu sehr allein gelassen werden mit der Frage nach dem Wert und Sinn des Lebens, das im staatlichen System nicht mehr "funktioniert", keinen Gewinn bringt, nichts mehr zu leisten imstande oder willens ist.

Die Antworten darauf bedürfen einer tiefen Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Einstellung zum Leben und eines gesellschaftlichen Bekenntnisses zu einer einschließenden, offenen, bejahenden und begegnungsbereiten Wertehaltung. Gewalt an alten Menschen wird dort begünstigt, wo problematisierte Randszenarien geschaffen werden und nimmt ab in einem Sozialklima der Augenhöhe.

Gewaltprävention und Menschenrechte

Nicht zuletzt ist diese "Augenhöhe" in den Menschenrechten verankert (Artikel 20, 21, 22, 23, 25, 26)[7]. Geschlechterungerechtigkeit, soziale Isolation und Gewalt – zentrale Schwachpunkte auch einer hochzivilisierten Gesellschaft wie jener in Österreich – verstoßen gegen die Menschenrechte.

Einsamkeit, das zentrale Phänomen unserer Zeit, ist das Hauptsymptom einer vernachlässigten Miteinbeziehung und Teilhabe alter Menschen bis hin zur Hochaltrigkeit. Dazu zählt die bauliche Verortung von Einrichtungen der Pflege und Betreuung, die architektonische Gestaltung, das Vorhandensein von natürlichen und Förderung von geschützten Begegnungsräumen, die Barrierefreiheit, die zivilgesellschaftliche Verantwortung und die Wahrnehmung aller – ungeachtet des Alters, der Diagnosen und der Leistungsfähigkeit – als vollwertige, als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, die allein durch ihr Dasein ihren Beitrag geben, darüber hinaus natürlich noch vieles mehr, und denen eigene Meinungen, Interessensbekundungen und Mitbestimmungsmöglichkeiten selbstverständlich zustehen.

Referenzen

Weiterführende Informationen