Sexualisierte Gewalt in Institutionen – Wenn Alltag nicht mehr möglich ist

Sexueller Missbrauch an Kindern oder Jugendlichen in der eigenen Institution – das "passiert" doch nur woanders. Nicht bei uns! Wir sprechen doch sofort an, wenn uns etwas "Komisches" auffällt. Und wenn trotzdem ein mulmiges Gefühl bleibt, wissen wir, wohin wir uns – intern und extern – damit wenden können. Davon abgesehen, dürfen bei uns ohnehin keine Männer kleine Kinder ... also... wickeln z.B. oder trösten. Und überhaupt sind unsere männlichen Kollegen alle total witzig und kinderlieb, die sind ja selbst noch "jugendlich" und engagieren sich total für den Kinderschutz.

Und "Zack" – auf einmal "passiert es" doch. NEIN: nix passiert und schon gar nicht plötzlich!

Autorin: Mag.a Gabriele Rothuber, Geschäftsführung Verein Selbstbewusst, Diplomierte Sexualpädagogin, Sexualberaterin, System. Traumapädagogin- und Fachberaterin

Thema März 2021

Step by step

Kindheit/Jugend

Viele der erwachsenen Täter:innen sexualisierter Gewalt an Kindern wurden bereits selbst sehr früh sexuell übergriffig (als Kinder oder Jugendliche) – jedoch durch ihr erwachsenes Umfeld nicht gestoppt: sie haben sich sexuell übergriffiges Verhalten eingelernt, um Macht zu empfinden. Hier können bereits Täter:innen"karrieren" ihren Ausgang nehmen.

Berufswahl

Schon die Berufsauswahl ist ein strategisches Vorgehen: die Entscheidung für eine Ausbildung im pädagogischen, beraterischen, seelsorgerischen oder therapeutischen Bereich ist eine klassische Täter:innenstrategie: vertrauensvoller, geschützter Kontakt zu Kindern kann als Trainer:in, Lehrperson, Kindergärtner:in, Ärzt:in, Tageselternteil etc. aufgebaut werden. Oder im ehrenamtlichen Engagement.

Wahl des Arbeitgebers

Aus der Perspektive eines Menschen, der seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten von Kindern befriedigen möchte, gilt es hier die Schwachstellen zu erkennen:

Dazu gehören etwa strenge hierarchische Leitungsstrukturen oder schwammige Aufgabenverteilung, fachliche Unklarheiten und wenig bis kein im Bereich des Kinderschutzes ausgebildetes Personal. Dies wird schon beim Blick auf die Homepage klar:

  • positioniert sich die Organisation klar für den Kinderschutz?
  • hat sie die Prävention sexualisierter Gewalt in ihrem Leitbild aufgenommen?
  • Gibt es eine:n Kinderschutzbeauftragte:n?

Gerade Organisationen, die in der Öffentlichkeit hohes Ansehen genießen, werden sich um ihren "guten Ruf" sorgen und ggf. dazu beitragen, dass institutioneller Missbrauch nicht nach außen dringt. Oder befindet sich der Hinweis eines Kinderschutzkonzeptes auf der Homepage? Dann vielleicht lieber die Finger davon lassen und weitersuchen.

Auch Institutionen, die "professionelle Kindesvernachlässigung" als Laissez-Faire-Erziehungsstil darstellen, tragen die Gefahr des Missbrauchs in sich. Ebenso jene, die eine rigide oder gar keine Sexualerziehung als richtig erachten: wird Sexualität tabuisiert, kindliche Sexualität (zB die Schau- und Zeigelust, Erkundungsspiele, Fragen zur Sexualität) unterbunden oder die Entwicklung einer selbstbestimmten Sexualität nicht gefördert, so erschwert dies selbstverständlich Gespräche über erlebte sexuelle Grenzverletzungen.

Ist die Hürde des Einstellungsgespräches überwunden? Oder wird die Person gar – auch in der Freiwilligenarbeit! – um einen erweiterten Strafregisterauszug gebeten? Zusätzlich sollte in diesem Gespräch auf das bestehende Schutzkonzept sowie die klare Positionierung gegen sexualisierte Gewalt hingewiesen werden. Die Unterfertigung eines Verhaltenskodex, der das Zusammenleben / -arbeiten klar regelt, ist eine weitere Hürde, die bezeugt, dass diese Organisation sich intensiv mit der Möglichkeit sexualisierter Gewalt auch in den eigenen Reihen auseinandergesetzt hat.

Manipulation der Kolleg:innen

Potentielle Täter:innen präsentieren sich gerne als unentbehrlich, hilfsbereit, besonders kollegial und geschätzt. Oder sie pflegen das Image des "Kindskopfes" oder "Berufsjugendlichen", des Unbedarften. Sie stellen bewusst Freundschafts- oder gar Liebesbeziehungen her, um jeglichen Verdacht von sich zu wenden. Sie positionieren sich klar gegen sexualisierte Gewalt und geben sich besonders auf das Kindeswohl bedacht.

Und doch verschieben sie langsam aber stetig die Grenzen: sie loten aus, was in der Kollegenschaft oder von den Kindern (noch) toleriert wird: ein sexualisierter Witz, der Schamgrenzen übertritt, zu dem sich aber niemand positioniert; eine "zufällige" Berührung, die Unbehagen hervorruft; ein Geheimnis, das ein Kind gegenüber anderen bevorzugt; ein privater Gefallen, der eine Kollegin bindet; eine unangebrachte Hilfestellung bei der "Körperpflege".

Gezielte Suche nach verletzlichen Kindern

Kinder, die bereits Opfer sexueller Ausbeutung waren, haben ein erhöhtes Risiko. Ebenso Kinder mit körperlichen Gewalterfahrungen oder mit körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen. Auch Kinder, die keine Sexualerziehung erhalten haben und – wie alle anderen Kinder auch – neugierig sind (deren Fragen aber bis dato niemand beantwortet hat), haben ein erhöhtes Risiko: ihnen (und dem Umfeld) wird sexuell übergriffiges Verhalten als "Aufklärung" verkauft.

Und wie geht es der Institution bei Verdacht auf sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen?

Die Gefühlspalette der Kolleg:innen reicht von Misstrauen, Wut, Verunsicherung, Schuldgefühlen über Loyalitätskonflikte bis zum Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Abhängig davon, welche Erfahrungen mit dieser Thematik selbst gemacht wurden: die hohen Zahlen zeugen davon, dass Opfer sich selbstverständlich auch in Institutionen finden, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Und abhängig davon, welche fachlichen Kompetenzen man sich aneignen konnte, ob das Team supervisorisch begleitet wird, wie die Leitung reagiert etc.

Ein interner Verdachtsfall ist für jede Leitung eine große Herausforderung!

  • Die möglicherweise betroffene Person muss geschützt werden.
  • Der Mensch unter Verdacht darf nicht vorverurteilt, der Datenschutz muss gewährleistet werden.
  • Das Kollegium darf nicht aus dem Blick verloren werden, es ist in der Regel zutiefst verunsichert.

In einem Notfallplan, der einen Teil der Intervention im Kinderschutzkonzept ausmacht, sollte deshalb unbedingt die Verpflichtung, sich in Vermutungsfällen sexueller Gewalt externe Hilfe bei Fachberatungsstellen zu holen, festgehalten sein. Auch aufgrund der Befangenheit und Loyalität. Nur so können ein Vorgehen, das den guten Ruf über das Kindeswohl stellt, oder Fehlentscheidungen verhindert werden.

Die Person unter Verdacht wird zum Täter/zur Täterin: Anzeige und Verurteilung?

Leitungen brauchen externe Beratungsstellen, die ihnen bei den möglichen und notwendigen Schritten helfen.

  • Ist eine Gefährdungsmitteilung nach §37 B-KJHG zu machen?
  • Wann ist wer anzeigepflichtig?

Möglichkeiten der Bewältigung

Organisationen, die diese Erfahrungen machen mussten, verändern sich unausweichlich. Dieser Prozess ist schmerzhaft, aber notwendig, um zukunftsorientiert weiterarbeiten zu können. Ein Unter-den-Teppich-kehren bereitet höchstens den Boden dafür, Teams endgültig und unwiederbringlich zu spalten.

Gefühle müssen ausgesprochen, Sprachlosigkeit muss überwunden werden dürfen. Das Geschehene muss einerseits zur Geschichte werden dürfen, andererseits muss für die Zukunft daraus gelernt werden:

  • was an unseren Strukturen und Rahmenbedingungen hat diese Tat(en) begünstigt und ermöglicht?
  • Wie können wir dies ändern um die Schwellen der sexuellen Ausbeutung intern zu erhöhen?

Dies kann nur mit Supervision, Fallanalyse und externer, begleitender Hilfe gelingen und ist ein längerfristiger Prozess.

Prozessschema: Fallanalyse - Konzept  - Sexuelle Gewalt - Krisenmanagement - Aufarbeitung

Was bringt das den Betroffenen?

Womöglich fassen durch die Aufdeckung noch weitere Betroffene den Mut sich anzuvertrauen. Sie erfahren Unterstützung und fachliche Hilfe bei der Aufarbeitung. Der Umgang NACH sexualisierter Gewalt ist für Betroffene äußerst wichtig für den Prozess der Aufarbeitung und Integration des Geschehenen in das eigene Leben.

Weiterführende Informationen