Im Sog der Verschleierung – Gewaltkreislauf meets Suchtdynamik

Portrait Jürgen Allgäuer

Jürgen Allgäuerwidmet sich in diesem Artikel, Erlebens- und Verhaltensmustern, die in der Beziehungsgestaltung zu gewalttätigen und/oder suchtkranken Personen weit verbreitet sind. Betroffen davon sind sowohl Angehörige wie auch Professionist:innen. Letztere sind gefordert, die Wirkung der Co-Dynamik (immer wieder) bewusst wahrzunehmen und die Einrichtungsstrukturen vor diesem Hintergrund zu überprüfen.

Autor:  Mag. Jürgen Allgäuer ist Erziehungswissenschafter, Männer- & Gewaltberater, Diplomsozialarbeiter, Focusing-Therapeut i.A. Mitarbeiter der Männerberatung Mannsbilder und der Fachstation für Drogentherapie im LKH Hall in Tirol, Berater und Seminarleiter für Aggressionstrainings, Gewaltintervention und Körperwahrnehmung

Thema Mai 2019

Prämisse: Ich arbeite seit Jahren in den Bereichen Suchthilfe und Gewaltberatung. Dabei bemerke ich immer wieder, dass sich Themen und Verhaltensweisen der Klient/innen in beiden Arbeitsfeldern ähneln, ebenso wie die Übertragungen und "Fallen", die mich beim Beraten herausfordern.

Dieser Artikel widmet sich explizit den jeweiligen Beziehungsdynamiken. Ich setze dabei voraus, dass die Verantwortung für gewalttätiges Handeln beim Täter liegt. Gewalt verletzt, demütigt und macht Angst. Die Reflexion von Verhaltensmustern auf der Opferseite ist erst auf Basis eines ausreichend geschützten Rahmens möglich und zumutbar.

In der Tiroler Männerberatung Mannsbilder haben wir auf verschiedenen Ebenen unsere Interventionsstrategien im Umgang mit gewalttätigen Männern weiter entwickelt. Schwerpunkte waren u.a. die Unterscheidung von Gewalt in Familien oder Partnerschaften versus Gewalt im öffentlichen Raum, die Einzelberatung im Männerzentrum sowie die Gruppenarbeit in der Justizanstalt Innsbruck.

Wenn wir Männer dabei unterstützen, ihre Gewalttätigkeit zu ändern, reflektieren wir neben der konkreten Tat die vorangegangenen Konfliktstrategien und die anschließenden Umgangsformen damit. Diese können in ihrer Abfolge als Kreislauf dargestellt werden. Um die Gewaltspirale in einer Beziehung auf Dauer aufrecht zu halten – nicht zu verwechseln mit der Reaktion auf konkrete Gewalttätigkeit! - benötigt es einen mitwirkenden Gegenpart. Während beispielsweise ein gewalttätiger Mann die Verantwortung für seine Gewalt an die Partnerin abgibt, sucht die geschlagene Partnerin die Schuld bei sich, in der unrealistischen Hoffnung, sich durch die Vermeidung von Konfliktanlässen vor weiterer Gewalt schützen zu können.

Parallelen zu dieser kollusiven Verhaltensergänzung in Partnerschaften finden wir in der Suchtdynamik wieder, im Verhältnis von Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit. Während ich an diesem Artikel schreibe, blickt mein Sohn auf die Unterlagen am Tisch und fragt: "Papa, was ist Co-Abhängigkeit? .... heißt das, dass man zusammen abhängig ist?" Ich atme durch, lasse die Frage sickern und muss grinsen. Damit hat er die Sache auf den Punkt gebracht. Es geht mir um die Frage, wie Beziehungen zu Menschen gestaltet werden, die suchtkrank und/oder gewalttätig sind. Diese Fragestellung ist sowohl für betroffene Angehörige wie auch für Professionist/innen von Bedeutung.

Co-Abhängigkeit wird oft verstanden als typische Reaktionen auf das Verhalten eines Suchtkranken, womit der Abhängige im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und als problemverursachend für seine Angehörigen gesehen wird. Anne Wilson Schaef, eine Pionierin der Co-Abhängigkeits-Forschung, beschreibt diese hingegen als psychosoziale Disposition, die schon vor dem Kontakt mit einem Suchtkranken vorhanden ist.[1]

Gefährdet sind Personen, die Angehörige von einem/einer Suchtkranken sind oder waren oder mit diesen beruflich arbeiten, sowie Menschen, die in einer emotional repressiven Familie aufgewachsen sind. Beim Kontakt mit Suchtkranken manifestieren sich latent schon vorhandene Verhaltens- und Wahrnehmungsstrukturen. Man merkt dies beispielsweise daran, dass es im Umgang mit einem Alkoholiker schwer ist, die eigene Klarheit zu bewahren. Dies betrifft sowohl die Individuen wie auch die jeweiligen sozialen Systeme, d.h. Familien, Betriebe, Beratungsstellen, Institutionen, etc.

Im Umgang mit suchtkranken wie auch mit gewalttätigen Menschen können folgende phänotypische Verhaltensweisen beschrieben werden, die aktiv zur Aufrechterhaltung der jeweiligen Dynamik beitragen[2]:

  • "Nicht Merken": Leugnung und Unterdrückung der Selbstwahrnehmung, fehlender Kontakt zu eigenen Emotionen, bzw. Angst vor Überflutung beim "Ausbruch" von Empfindungen. Oft verbunden mit negativer Selbstbewertung, Kompensation der Selbstaufgabe durch Fokussierung auf´s Gegenüber, dessen/deren Aufmerksamkeit und Verhalten.
  • Aggressionsvermeidung: fehlende Abgrenzung bzw. Wahrnehmung eigener Grenzen, Übernahme der Verwirrung von Anderen, Verwechslung von Nähe und Verschmelzung, oder auch innere Emigration/soziale Isolation.
  • Übertriebene Fürsorge: Leiden für Andere oder für ein Ideal, z.B. die heile Familie.
  • Überforderung: durch unrealistische Ansprüche, bis hin zu körperlichen Erkrankungen aufgrund chronischer Übererregung.
  • Verantwortungsübernahme für Andere: in der Illusion, das Verhalten anderer zu steuern, wird die Verantwortung für Gewalttätigkeit des/der Anderen oder für dessen/deren Suchtmittelkonsum (mit) übernommen, bei gleichzeitigem Delegieren der Eigenverantwortung für persönliche Bedürfnisse.
  • Übersteuerte Selbstbezogenheit: Rückfälle, Krisen, Dysphorie des Gegenübers werden generalisiert auf sich selbst, das eigene Verhalten bezogen.
  • Kontrolle: vergebliche und unerfüllbare Ansprüche, Andere(!) zu kontrollieren. "Ich bringe den anderen dazu, seine Gewalt/seinen Drogenkonsum zu beenden", damit verbunden ist die Abwehr der eigenen Angst, Wut und Hilflosigkeit. Dies führt oft zu starren Körperhaltungen und dogmatisch/rechthaberischen Einstellungen, Rationalisierung von Gefühlen, überhöhten Lösungsansprüche. Auch den Partner/die Parnterin entmündigende Haltungen werden damit gerechtfertigt: "Ich will nur dein Bestes".
  • Unehrlichkeit, Manipulation: eigenes Verhalten entspricht nicht den inneren Empfindungen. Automatisiertes Selbstverbiegen und Leugnen der inneren Klarheit, auch um Konflikte zu vermeiden.

Im vertraulichen Rahmen der Beratung übe ich gemeinsam mit den Klienten, diese Verhaltensmuster und die damit verbundenen inneren Haltungen zu bemerken. Das Erkennen von eigenen eskalierenden Anteilen ermöglicht Veränderung. In diesem Sinn ist jedes Be-Merken eine Tür, die den Weg aus dem Kreislauf hinaus weist. Im persönlichen Kontakt fördern wir jene Kompetenzen, die laut Antonovsky3 wichtig sind, um existentielle Krisen und Extremsituationen zu meistern:

  • Verstehbarkeit: die Fähigkeit, die Dynamik von Gewalt- und Suchtsystemen und deren Wirkungen zu verstehen,
  • Handhabbarkeit: das Vertrauen in eigene Fähigkeiten und ausreichende persönliche und soziale Ressourcen(!), Herausforderungen zu bewältigen
  • Sinnhaftigkeit: der Glaube an die Sinnhaftigkeit der Existenz, sodass Anstrengung und Engagement gerade auch in schwierigen und bedrohlichen Situationen sinnhaft ist.

In Sucht- und Gewaltsystemen wirkt ein Sog, auf den die oben geschilderten Symptome hinweisen. Die Wahrnehmung, dass und wie diese Dynamik in und um uns selbst als Berater wirkt, ermöglicht es, immer wieder auszusteigen, Alternativen zu erkennen und anzubieten. Dies braucht den Mut und die innere Größe, dem Klienten auf Augenhöhe zu begegnen, anstatt die eigene Betroffenheit zu leugnen.

Dazu hilfreich und notwendig ist das Ringen um einen klaren Kontakt, mit sich selbst, den KollegInnen und den KlientInnen. In der Männerberatung haben wir in den letzten Jahren durch emotions- und körperorientierte Fortbildungen unsere eigene Wahrnehmungsfähigkeit erweitert und geschärft. Parallel legen wir großen Wert auf kontinuierliche kollegiale Intervision. Die Arbeit an der Wertesäule[4], sowohl in der Beratung mit Männern wie auch in Teamprozessen, ist selbstverständlicher Teil unserer Arbeit.

Die beschriebene Dynamik von Sucht- und Gewaltprozessen wirkt implizit auch in Institutionen und deren Leitlinien. Es erscheint mir wichtig, therapeutische Konzepte aus dieser Perspektive kritisch zu betrachten. So ist es in vielen drogentherapeutischen Einrichtungen noch immer selbstverständlich, KlientInnen ihrer Grundrechte zu entheben und sie mit helferischen Begründungen zu entmündigen.

Ein anderes Beispiel ist die Opferorientiere Täterarbeit[5], die aktuell in Fachkreisen der Opferhilfe und Täterarbeit diskutiert wird. Ich erachte es als sinnvoll, die darin enthaltenen Ziele und Vorgaben an ProfessionistInnen anhand der oben beschriebenen Prozess-Symptome wie übersteuerte Kontrolle, Delegation von Verantwortung oder dogmatische Lösungsansprüche zu überprüfen.

Referenzen

[1] Schaef, Anne Wilson: Co-Abhängigkeit. Wilhelm Heyne Verlag München. 16. Auflage 2006. S. 24ff

[2] vgl. ebenda 55ff, im Vergleich mit Praxiserfahrung in der Täterarbeit, siehe auch Beschreibungen der Gewaltdynamik, Jahresberichte Männerberatung Mannsbilder, Download unter www.mannsbilder.at.

[3] Ostermann, Doris: Salutogenetische Aspekte in der Suchtherapie – die Bedeutung der Sinnfrage sowie der Reflexion und Neuorientierung der Werte im Genesungsprozess von Suchtkranken", GraduierungsArbeit zur Integrativen Therapie, S. 8f, Osnabrück 2003

[4] nach Hillarion Petzold, "Säulen der Identität", unveröffentl. Skriptum

[5] Opferschutzorientierte Täterarbeit mit Männern, die Gewalt gegen ihre Parnterin/Kinder ausüben (OTA 2017)

Literatur

  • [1] Schaef, Anne Wilson: Co-Abhängigkeit, 16. Auflage S. 24ff Wilhelm Heyne Verlag München, 2006
  • [2] Ostermann, Doris: Salutogenetische Aspekte in der Suchtherapie – die Bedeutung der Sinnfrage sowie der Reflexion und Neuorientierung der Werte im Genesungsprozess von Suchtkranken“ In: Graduierungs Arbeit zur Integrativen Therapie, S. 8f, Osnabrück, 2003