Projekt "No Front" – Spielerische, sozialräumliche Gewaltprävention in der Männerberatung Wien
Im folgenden Beitrag wird das Pilotprojekt "No Front" der Männerberatung Wien vorgestellt. In diesem sozialräumlich orientierten Gewaltpräventionsprojekt im Wiener Bezirk Favoriten wurden mit Jugendlichen spielerisch sorgende Fähigkeiten erarbeitet. Basierend auf Erkenntnissen der kritischen Männlichkeitsforschung und feministischen Sorgeethik wurden Konfliktkompetenzen, Sorgeverhalten und Verantwortungsübernahme direkt geübt.
Das Projekt "No Front" zeigt, dass Gewaltprävention durch spielerische Ansätze und die Einbindung in bestehende soziale Netzwerke effektiv sein kann. Die Teilnehmer:innen lernen spielerisch Empathie zu entwickeln, Sorgeverhalten zu üben und Konflikte zu bearbeiten. "No Front" erwies sich als großer Erfolg und legte dahingehend dringend notwendige Grundlagenarbeit.
Autor: Peter Peinhaupt, Sozialarbeiter und Sozialpädagoge für die Männerberatung Wien. Gemeinsam mit Stefan Glaser das Projekt "No-Front" konzipiert und umgesetzt. Forschung zu abolitionistischen und feministischen Perspektiven im Gewaltschutz.
Thema Oktober 2024
Mein Kollege Stefan und ich sitzen an einem großen Tisch im Jugendtreff Arthaberbad im Herzen von Favoriten. Um uns wartet eine große Gruppe junger Menschen gespannt, welches Spiel wir heute mitgebracht haben. Seit mehreren Monaten besuchen wir die Einrichtung, die in dem Bezirk so wichtige Arbeit macht. Die Jugendlichen kennen, mögen und vertrauen uns. In der Mitte des Tisches haben wir eine Glasflasche und einen Stapel Karten aufgebaut. Auf den Karten sind Szenarien zu lesen wie "Ich hab dir dein Ott geklaut", "Ich wollte bestimmen, wie du dich am Abend anziehst" oder "Ich habe dein Handy kontrolliert.".
Das Spiel ist einfach. Gespielt wird nacheinander. Die Person, die dran ist, dreht die Flasche. Die Person, die durch den Flaschenhals ausgewählt wird, ist der oder der:die fiktive Freund:in. Eine Szenario-Karte wird laut vorgelesen und in die Mitte des Tisches gelegt. Die Person, die dran ist, muss sich nun für das fiktive Fehlverhalten bei der auserwählten Person entschuldigen. Alle anderen am Tisch bestimmen danach, ob die Entschuldigung gut war oder nicht so toll rübergekommen ist. Sie geben Tipps und Vorschläge, was verbessert werden kann. Alle Geschlechtsidentitäten spielen mit, doch beginnen gerade die Burschen meist sehr verhalten. Entweder kommt nur ein kurzes "Tschuldigung" oder sie erfinden viele Gründe, warum ihr Verhalten "eh okay" war. Sie wollen cool und abgebrüht wirken. Doch das Feedback der Gruppe wirkt und sie beginnen sich ordentlich zu entschuldigen. Nach ca. 10 Minuten beginnen sich die Mitspielenden mit den einfühlsamsten Entschuldigungen zu übertrumpfen. Nach einer gelungenen Entschuldigung blickt eine groß gewachsener 18-Jähriger stolz in die Runde und meint "das war die beste Entschuldigung, so kriegt ihr das nicht hin".
Die Soziologin Raewyn Connell entwickelte die Idee der hegemonialen Männlichkeit (R. Connell, 2015 [1]; R. W. Connell & Messerschmidt, 2005 [2] ). Männlichkeiten sind, so die Soziologin, hierarchisch organisiert. Ihr zufolge werden bestimmte mit Männlichkeit verbunden Eigenschaften als erstrebenswert angesehen und werden gesellschaftlich belohnt, nicht erstrebenswerte werden abgewertet.
Übertragen wir dieses Konzept auf junge Burschen in Favoriten, sind Eigenschaften wie Stärke, Überlegenheit, Unantastbarkeit erstrebenswert. Ein Benennen der eigenen Gefühle, ein Einstehen für Fehlverhalten und ein empathisches Eindenken in eine Person, der Unrecht getan wurde, werden belächelt oder als nicht männlich abgewertet. In dem von uns entwickelten Entschuldigungs-Spiel wurde dies umgekehrt. War anfangs noch die Stärke und das sich einer Entschuldigung verweigern und Entziehen das Ideal der männlichen Jugendlichen, so wurde im Laufe des Spiels das sich am besten Entschuldigen zum Idealtyp. Der, der sich am besten in die andere Person reinversetzen konnte, dadurch sein Verhalten reflektieren und sich um die Bedürfnisse und Gefühle anderer sorgen konnte, wurde kollektiv durch Anerkennung belohnt. Gleichzeitig wurden Entschuldigungen geübt. Das Beispiel stammt aus der Arbeit des Pilotprojektes "No Front", das im Jahr 2023 umgesetzt wurde. Ziel des Projekts war es, spielerisch sorgende Fähigkeiten in den Sozialen Netzwerken zu aktivieren.
Hintergrund
Mit dem Projekt "No Front" hat die Männerberatung Wien erstmals aufsuchend direkten Kontakt zu jungen Menschen gesucht und dabei einen intersektionalen und sozialräumlichen Ansatz in der Gewaltprävention verfolgt. Junge Menschen wurden im Bezirk spielerisch, lebensweltorientiert angesprochen. Basierend auf Erkenntnissen der kritischen Männlichkeitsforschung und feministischen Sorgeethik wurden Konfliktkompetenzen, Sorgeverhalten und Verantwortungsübernahme direkt geübt. Sozialraumorientiert wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Verein Wiener Jugendzentren und Wohnpartner über ein Jahr lang regelmäßig der Jugendtreff Arthaberbad, Back on Stage 10 sowie der Hermine-Fiala-Hof besucht. Diese regelmäßigen Angebote waren für alle Geschlechts-Identitäten offen, so konnten Beziehungen zu den Teilnehmenden aufgebaut werden und schambesetzte Themen wie Gewalt und Geschlecht angesprochen werden.
Eine unserer Ausgangsthesen bei der Projektdurchführung war, dass nicht nur die gewaltausübende Person Verantwortung für die Gewalt trägt, sondern auch das Umfeld, das aktiv wegschaut oder überfordert ist. Es wurde in Gemeinschaften, Gruppen und Cliquen gearbeitet, um eine Sprache für Gewalt und Konflikte zu üben und soziale Netzwerke zu befähigen, auf Gewalt vielfältig reagieren zu können. Spielerisch durchlebten wir Konfliktsituationen und fanden Lösungen. Wir legten soziale Netzwerke frei, um Freund*innen, die Gewalt erleben, im Ernstfall helfen können. Wir besprachen, wie der soziale Nahraum Verantwortung von Gewalt Ausübenden einfordern kann. Wir entwickelten dafür niederschwellige "Drop-in-Drop-out-Spiele".
Im Projekt wurde Gewalt als geschlechtsspezifisch und patriarchatsstabilisierend verstanden. Der Soziologe Jeff Hearn, einer der Pioniere der kritischen Männlichkeitsforschung, hebt hervor, dass es vor allem männlich sozialisierte Personen sind, die den Großteil der zwischenmenschlichen Gewalt ausüben und somit die Hauptverantwortung dafür tragen. Einige Männer werden sogar zu regelrechten Experten der Gewalt (Hearn, 2020 [3]). Das Projekt setzte gezielt bei jungen Männern und ihren Erfahrungen mit Gewalt an. Gewalttätiges Verhalten wurde offen benannt, und Situationen, in denen Gewalt bagatellisiert, unterstützt oder gefordert wurde, wurden kritisch reflektiert. Gemeinsam wurden Wege zu einem aktiven, gewaltfreien Handeln erkundet und erarbeitet.
Nach dem Konzept der "Caring Masculinities" (Elliott, 2016 [4]) führt fürsorgliches Verhalten zu Gewaltfreiheit – es muss jedoch aktiv eingeübt werden. Ein zentraler Aspekt von "No Front" ist der ressourcenstärkende Ansatz: Nicht das negative, gewaltfördernde Verhalten steht im Vordergrund, sondern das aktive Fördern fürsorglicher Handlungsweisen. Empathie und Verantwortungsübernahme wurden spielerisch vermittelt, sodass fürsorgliche Verhaltensmuster praktisch erlernt und gefestigt werden konnten. Auf diese Weise wurde toxischen Männlichkeitsidealen gezielt und konstruktiv entgegengewirkt.
So konnten positive Identitätsmodelle fürsorglicher Männlichkeit vermittelt werden. 8 verschiedene Spiele und Methoden, wie beispielsweise ein Entschuldigungs-Spiele, Hemmschwellen-Kartenspiel oder Beziehungsprobleme-Flaschendrehen wurden entwickelt, um Empathie und Verantwortungsübernahme zu üben. Das Projekt "No Front" zeigt, dass Gewaltprävention durch spielerische Ansätze und die Einbindung in bestehende soziale Netzwerke effektiv sein kann. Die Teilnehmer:innen lernen spielerisch, Empathie zu entwickeln, Sorgeverhalten zu üben und Konflikte zu bearbeiten. "No Front" erwies sich als großer Erfolg und legte dahingehend dringend notwendige Grundlagenarbeit.
"No Front" baute eine Brücke zu den bestehenden Angeboten. Durch die erfolgreiche Beziehungsarbeit wurden Hemmschwellen abgebaut, sodass junge Männer die Beratungsstunden in der Einrichtung wahrnehmen konnten. In den Einzelberatungen wurden gewalttätige Situationen besprochen. Wir förderten das Empathievermögen, indem die Perspektive der Betroffenen eingenommen wurde. Gefühle und Emotionen, die zu gewalttätigem Verhalten führten, wurden benannt. Lebensweltorientierte Handlungsstrategien für ein aktives, gewaltfreies Verhalten wurden erarbeitet, und Unterstützungsnetzwerke im sozialen Nahraum wurden freigelegt.
Zahlen Fakten
Das Projekt startete im Juni 2022, gefolgt von der intensiven Phase der Personalsuche, bei der bis Juli ein neuer Mitarbeiter eingestellt und eingearbeitet wurde. Parallel dazu wurden Kooperationsvereinbarungen mit unseren Projektpartnern, wie dem Verein Wiener Jugendzentren und Wohnpartner, getroffen und die Details der Zusammenarbeit konkretisiert.
Im September 2022 begann die direkte Arbeit mit der Zielgruppe. Regelmäßig besuchten wir die Einrichtungen im Jugendzentrum Arthaberbad, in der Jugendzone von Back on Stage 10 sowie im Hermine Fiala Hof. Mit einem klaren Fokus auf monatliche Themenschwerpunkte arbeiteten wir spielerisch daran, gewaltpräventives Verhalten zu fördern.
Im Verlauf des Projekts konnten wir insgesamt 1.431 Menschen im direkten Kontakt erreichen, darunter auch Einzelberatungsgespräche. Über digitale Kanäle wie einen Instagram-Account und Chat-Beratungen kamen weitere 1.486 Menschen hinzu. Der Großteil der Kontakte fand in der direkten Arbeit mit den Jugendlichen statt: 655 Burschen, 264 Mädchen und 13 non-binäre Jugendliche profitierten von unserem Angebot.
Im öffentlichen Raum konnten wir auch Erwachsene sensibilisieren. Insgesamt setzten sich 83 Männer, 101 Frauen und 2 non-binäre Erwachsene mit den thematischen Schwerpunkten auseinander. Die entwickelten gewaltpräventiven Spiele wurden fortlaufend an 135 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren weitergegeben.
Ein zentraler Erfolgsfaktor des Projekts war der kontinuierliche Austausch und die Vernetzung mit unseren Kooperationspartnern. Über das Jahr hinweg konnten dadurch 178 (fach-)professionelle Kontakte geknüpft werden.
Das Projekt leistete wichtige Grundlagenarbeit: Gemeinsam mit den Jugendlichen entwickelten wir niedrigschwellige gewaltpräventive Spiele, die in mehreren Feedbackrunden getestet und verbessert wurden. Leider ist eine Veröffentlichung der Spiele aufgrund noch fehlender Schritte wie Formatierung, Lektorat und Präsentation bislang nicht möglich. Diese Arbeiten sollen im kommenden Jahr mit weiteren Fördermitteln abgeschlossen werden.
Quellen/Literatur
- [1] Connell, R. (2015). Der gemachte Mann. Springer Fachmedien Wiesbaden
- [2] Connell, R. W., & Messerschmidt, J. W. (2005). Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept. Gender & Society, 19(6), 829–859
- [3] Hearn, J. (2020). #MeToo as a variegated phenomenon against men’s violences and violations: Implications for men and masculinities. In The Routledge Handbook of the Politics of the #MeToo Movement. Routledge.
- [4] Elliott, K. (2016). Caring Masculinities: Theorizing an Emerging Concept. Men and Masculinities, 19(3), 240–25