Rate mal, wer bin ich? Gewaltprävention: Stärken und Ressourcen bei Jugendlichen mit Migrations- und/oder Fluchthintergrund bewusst machen

Probleme in Bezug auf Ausdrucksfähigkeit, Impulskontrolle und grenzverletzendes Verhalten von Jugendlichen mit Migrations- und/oder Fluchthintergrund sind ein omnipräsentes Thema. Wer kennt diese Schlagzeilen nicht?
Der Beitrag berichtet über den Besuch in einer Brennpunktschule in Wien Favoriten und untersucht, ob es zu einem Scheitern der Schulen an der Integration von Migrantenkids kommt.
Autor: Mag. Peter Stefanovicz, Männerberatung der Caritas Kärnten
Thema März 2025

Problemstellung
Der Prozess der Selbstermächtigung ist in Flucht– beziehungsweise Migrations-Biographien ein wichtiger Schritt, um die eigene Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Handlungsfähigkeit ist eine der wichtigsten Ressourcen, wenn es darum geht das eigene Leben zu ändern. Wer und was als Ressource empfunden wird, lässt sich nicht anhand von objektiven, für die Person gewinnbringenden Kriterien, bestimmen. Vielmehr steht die Wertschätzung bezüglich der eigenen Kraftreserven im Fokus.
Was aber tun, wenn die eigene Sprache von der Umgebung nicht verstanden wird? Was, wenn die ureigenen Gesten als störend oder womöglich bedrohlich wahrgenommen werden?
Fakt ist: Migration und/oder Flucht gehen in den meisten Fällen mit einem sozioökonomischen Abstieg einher. Selbst dann, wenn bereits das Herkunftsmilieu bildungsfern und/oder ökonomisch benachteiligt ist, werden die Einbußen hinsichtlich gesellschaftlicher Anerkennung spürbar. Die Folgen werden entsprechend der Verteilungsquoten der sozialen Mobilität in Österreich weitervererbt. Dieses Spannungsfeld begünstigt die Schwächung der eigenen Ressourcen und gleichzeitig die Zunahme von Gefühlen wie Frust und Ohnmacht. Wie sich diese Gefühle bei Menschen mit Migrations- und/oder Fluchtbiographie manifestieren, lässt sich unter anderem in Schulen genau beobachten.
Relevanz
Der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF) legt aus dem Jahr 2016 folgendes statistisches Ergebnis vor:
"Über ein Fünftel (22 %) aller rund 1,13 Millionen Schüler/innen in Österreich hatte im Schuljahr 2014/15 eine andere Umgangssprache als Deutsch. Im Pflichtschulbereich – mit Schwerpunkt in Wien – ist dieser Wert noch höher: Mehr als die Hälfte der Wiener Volksschüler/innen hatte eine nichtdeutsche Umgangssprache. Bei den Wiener Hauptschüler/innen lag dieser Wert mit über 70 % noch höher." (ÖIF: "migration & integration - Schwerpunkt Kinder und Jugend" 2016 [1])
Die Zahlen aus 2016 dürften 9 Jahre später noch einmal deutlich zugelegt haben. Dementsprechend hat das Thema auch quantitativ eine ausgesprochen hohe Relevanz. In der Politik wird zunehmend intensiver und kontrovers diskutiert.
Praxiserfahrung
Kontextbeschreibung
Der Anzahl Jugendlicher mit Migrations- und/oder Fluchthintergrund variiert stark, je nach Standort sowie Stadtteil. In den von mir betreuten Schulen in Kärnten lässt sich ein Durchschnittswert von ca. 15 % bis 20 % ermitteln. In den städtischen Schulen hat sich eine Form von Akzeptanz von heterogenen Biographien entwickelt. Oder, anders formuliert, stellt diese "bunte Mischung" für die Schülerschaft eine gelebte Normalität dar.
In den Workshops konnte ich äußerst selten herkunftsbezogene Diskriminierung feststellen. Außerdem spielte die Frage der Religion nie eine Rolle.
Setting
Ich führe im Auftrag von Schulen Workshops zu den folgenden Themen durch:
- Aggression
- Mobbing
- gewaltfreies Miteinander
- Konfliktösungsstrategien
- Selbstwertschätzung
- Selbstfürsorge
Die Workshops finden während der Unterrichtszeit in den schulinternen Räumlichkeiten statt. Der Umfang ist variabel, in der Regel werden vier Unterrichtseinheiten im Block gebucht.
Modalitäten
Die Workshops richten sich an Burschen ab 12 Jahren. Meistens stammen die Teilnehmer aus ein und derselben Klasse. Es kommt aber auch vor, dass Burschen mehrerer Klassen zusammen den Workshop besuchen. Entsprechend der Zusammensetzung gibt es eine mehr oder weniger ausgeprägte Vertrauensbasis. Die Teilnehmerzahl ist auf höchstens 15 beschränkt.
Beobachtungen
Bei der Zielgruppe ist öfters eine besonders ausgeprägte Maskulinität zu beobachten. Dies äußert sich sowohl im verbalen als auch im nonverbalen Verhalten. Die Burschen versuchen stets ihre körperliche Stärke zu betonen und dadurch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Körperhaltung, Körpersprache und Aussagen, die Stärke bezeugen sollen, spielen eine wichtige Rolle.
Besonders dominante Jugendliche beanspruchen viel Raum für sich. Dabei muss erwähnt werden, dass die Teilnehmer immer im Sesselkreis sitzen. Entweder wird der Stuhl so gestellt, dass es links und rechts viel Platz gibt oder der Schüler breitet die Arme, die Beine aus und die Nachbarn müssen sich automatisch etwas weiter wegsetzen. Gleichzeitig werden zum Teil provokante Gesten eingesetzt.
Die Zielgruppe kultiviert oft eine Mischsprache aus Deutsch mit Wörtern aus dem Arabischen, Serbokroatischen, Türkischen etc. "Bruder, gib mir para!", "Was laberst du lan?", "Digger, du bist çok güzel!" – diese und ähnlichen Sätze werden mit einer dazu passenden Körpersprache unterstrichen.
Entsprechend der soeben beschriebenen Dynamiken schaukelt sich die Stimmung in kürzester Zeit hoch.
Der Erfolg des Workshops entscheidet sich meistens schon in der ersten Hälfte. Entscheidend ist die Gruppenzusammensetzung: Wenn die Teilnehmer aus einer Klasse sind, ist die Wahrscheinlichkeit für eine gelungene Zusammenarbeit wesentlich höher. In diesem Fall sind Konkurrenzkampf sowie Gruppenfindung nicht zentral.
Die Workshops werden methodisch so konzipiert, dass körperlicher Ausgleich nicht zu kurz kommt. Gruppendynamische Übungen und Forumtheater sind ein wunderbares Mittel gegen renitentes Verhalten. Durch die Dynamik der Bewegung werden die meisten Gruppen zwar lauter, sie lassen sich jedoch spürbar einfacher lenken. Dominante Jugendliche stellen sich während gruppendynamischen Übungen meistens sehr geschickt an und sind guter Teamplayer.
Jeder Bewegungsübung folgt eine Reflexionsrunde. Die Erfahrung zeigt, dass die intensive Bewegung für kurzzeitige Konzentration sorgt. Positive Feedbackkultur und "Anerkannt werden" sind wichtige Bestandteile eines jeden Workshops und werden gut angenommen.
Je nach Themenschwerpunkt rücken im weiteren Verlauf biographische Gegebenheiten und persönlichen Erlebnisse mehr oder weniger in den Mittelpunkt. Das heißt, Fähigkeiten, Erfahrungsschatz, Lösungsstrategien und so weiter werden in Form von Gruppenarbeiten und/oder dialogisch herausgearbeitet. Anstatt die Themen wie z. B. Gewaltprävention abstrakt zu verhandeln, versuche ich, die Teilnehmer in einem lebensweltlichen Kontext einzubetten und dadurch greifbar zu machen.
Erkenntnisgewinn
Im Laufe der Workshops werden immer unterschiedliche Verhaltensformen ausprobiert. In der Adoleszenz ist dieser Prozess unerlässlich. Der Umgang mit dem System Schule, mit Autoritäten, mit Klassen- und Gruppenregel spielen eine zentrale Rolle im Schulalltag. Dies spiegelt sich im nonverbalen Verhalten der Zielgruppe eindeutig wieder.
Bestimmte Attitüden der sogenannten Migrantenkultur sind für viele Jugendliche eine wichtige Identifikationsfolie und/oder eine Möglichkeit sich zu behaupten. Wo die Sprache versagt, sollte das Machogehabe helfen – so ungefähr könnte ich diese Verhaltensweise beschreiben. Denn allzu häufig werden tatsächlich vorhandene aber verborgen gehaltene Qualitäten durch eine überrepräsentierte Maskulinität ersetzt.
Anstelle dessen sollten die persönliche Qualitäten bzw. Ressourcen aufgewertet und sichtbar gemacht werden. "Wenn ich weiß, dass ich etwas kann, dann bin ich wer." Diesen Satz, der von einem Workshopteilnehmer stammt, bringt das Dilemma der Zielgruppe auf den Punkt.
Quellen/Literatur
- [1] ÖIF: "migration & integration - Schwerpunkt Kinder und Jugend" 2016
- [2] ÖIF-Forschungsbericht (2023): Werte und Einstellungen junger Migrant/innen
- [3] Gaitanides, S. (2003): “Migrantenjugendliche – Lebenslagen und Risiken beim
Aufwachsen. Was folgt für die Jugendhilfe?”. In: Kerner, H.-J.; Marks, E.
(Hrsg.): Internetdokumentation Deutscher Präventionstag. Hannover. - [4] Henkel, Jennifer/ Neuß, Norber (2018): Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen, Stuttgart: Kohlhammer Verlag
- [5] Metz, Marina/Skriabina, Olga/Samokhvalova (2022): Interkulturelle Kommunikationskompetenzen bei Kindern und Jugendlichen, Wiesbaden: Springer Verlag
- [6] Tiedemann, Markus (2018): Schule, Migration und ethische Bildung: Ethische und pädagogische Herausforderung (Brennpunkt Schule), Stuttgart: Kohlhammer Verlag