Gewaltige Wirkung – Was Primärversorgung und Stadtteilarbeit schaffen und was zur Erkennung von (versteckten) Gewaltsituationen beigetragen wird

Portrait Diana Holler

Diana Holler beschreibt in ihrem Beitrag wie die Gruppenpraxis und das Sozialmedizinische Zentrum (SMZ) Liebenau funktioniert und Menschen in ihren Krisen auffangen kann. Der Beitrag soll darlegen, was Primärversorgung und Stadtteilarbeit für die Bewohnerinnen und Bewohner in ihrem Umkreis ermöglicht und speziell auf die Prävention von Gewalt an älteren Menschen Bezug nehmen. Dazu leistet beispielsweise das Sozialrezept des SMZ Liebenau einen wichtigen Beitrag.

Autorin: Diana Holler, Sozialarbeiterin im Sozialmedizinischem Zentrum (SMZ) Liebenau

Thema November 2024

SMZ Liebenau Logo

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Wartezimmer Ihrer Hausärzt:innenpraxis. Vielleicht geht es heute nur um eine Blutabnahme, eine Erkältung oder eine erste Abklärung von Rückenschmerzen. Irgendwas ist ja immer.

Und damit ist die Hausärztin oder der Hausarzt die erste Anlaufstelle für die körperlichen Probleme. Meistens kennt man sich ja schon mehrere Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Deshalb antworten Sie auf ein "Wie geht es Ihnen?" sogar offener als Sie das jemals im Krankenhaus tun würden. An dieser Stelle finden plötzlich finanzielle Sorgen, Familiengeschichten, Trauer oder andere psychosoziale Themen Platz. Sie fühlen sich wohl und wissen, dass Ihre Erzählungen vertraulich behandelt werden. Wie man aber weiß, ist die Zeit – egal für welche Berufsgruppe – oft knapp und dennoch schaffen die Gruppenpraxis und das SMZ Liebenau es in vielen Fällen, die Menschen in ihren Krisen aufzufangen. Weil ein großartiges, interdisziplinäres Team die Arbeit hier gemeinsam meistert.

Mein Beitrag soll hier aber nicht (nur) ein Lob an das tolle Team ausdrücken, dessen Teil ich seit 2019 sein darf. Ich möchte mir an dieser Stelle anschauen, was Primärversorgung und Stadtteilarbeit für die Bewohner:innen in unserem Umkreis ermöglicht und speziell auf die Prävention von Gewalt an älteren Menschen Bezug nehmen. Dazu leistet beispielsweise unser Sozialrezept einen wichtigen Beitrag.

Unser Sozialrezept

Seit 2022 werden im SMZ und der Gruppenpraxis offiziell soziale Aktivitäten und psychosoziale Angebote auf Rezept verschrieben. Aber in Wirklichkeit sind wir da schon viel länger dran. Seit es das SMZ gibt, wurde das Soziale in der Lebenswelt von Menschen mitgedacht. Das ursprüngliche Sozialrezept (im Englischen als "Social Prescribing" bekannt) wurde jedenfalls in England als Ergänzung zu den bekannten ärztlichen Überweisungen und Rezepten entwickelt [1]. Der Hintergedanke war es, der sozialen Komponente der Gesundheit die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie benötigt. Hat jemand beispielsweise finanzielle Sorgen, familiäre Konflikte oder ist Gewalt ausgesetzt, wirkt sich das – wie wir schon lange wissen – auf die Gesundheit aus. Deshalb macht es nur Sinn, nicht nur Medikamente oder fachärztliche Termine zu verschreiben. Das wissen unsere Ärztinnen und Ärzte. Aber nicht alleine sie nutzen die Sozialrezepte. Jede Profession des SMZ hat Überweisungsscheine zur Verfügung und nutzt diese, um entweder intern weiterzuvermitteln oder zu externen Einrichtungen oder Angeboten zu überweisen. Was hat sich dadurch verändert? Die Menschen, die das SMZ und die Gruppenpraxis besuchen, haben mehr Überblick über unsere Projekte und die Kontaktinfos der Kolleginnen und Kollegen aller Berufsgruppen auf einer Karte zusammengefasst. Viel öfter wird nun daran gedacht, zu kostenfreien Aktivitäten und Beratungsangeboten weiterzuvermitteln.

Soziales auf Rezept in alle Richtungen

Herr F., gerade 70 Jahre alt geworden, ist hier ein perfektes Beispiel. Vor ein paar Monaten war er erstmals Gast im Stadtteilzentrum Jakomini – zufällig, da er nicht weit entfernt wohnte. Er hatte nicht viele soziale Kontakte in seinem Umfeld und suchte Anschluss. Unsere Stadtteilarbeits-Kolleginnen bauten ihn gleich bei Mittagstisch, BandCafé und anderen Projekten ein. Im Laufe der Gespräche machten sich unterschiedliche Themen breit, womit er schließlich in die sozialarbeiterische Beratung weitervermittelt wurde. Neben Anträgen für finanzielle Leistungen und psychosozialen Entlastungsgesprächen stellte der Sozialarbeiter fest, dass Herr F. bisher keine medizinische Versorgung in Anspruch genommen hatte. Nach ein paar gemeinsamen Terminen schaffte er es, Herrn F. mit unserem Sozialrezept in die Gruppenpraxis Liebenau zu unserem Kollegen Dr. Georg Reiser zu "überweisen". Seitdem ist Herr F. auch dort angebunden und schaut regelmäßig vorbei. Von dort ausgehend erfuhr er von den Projekten unserer Gesundheitsförderung und schloss sich den regelmäßigen offenen Runden mit und für Seniorinnen und Senioren an.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass das Sozialrezept in unterschiedlichste Richtungen funktionieren und damit Einsamkeit entgegenwirken kann. Die Angebote in der Stadtteil- sowie Nachbarschaftsarbeit ermöglichen eine Teilhabe von Bewohner:innen an einer Gemeinschaft sowie einen Zugang zu öffentlichen Leistungen, die ohne diese Arbeit nicht in Anspruch genommen werden würden. Und nicht nur das: Im besten Fall wird die Achtsamkeit für andere Bewohner:innen gesteigert, Toleranz für schwierige Situationen in der Nachbarschaft erhöht und damit sogar Gewaltprävention möglich gemacht.

Gesundheit in Primärversorgung und Stadtteilarbeit

Das SMZ Liebenau hat nun bereits 40 Jahre Erfahrung mit dem biopsychosozialen Gesundheitsmodell und legt in der Arbeit mit den Leuten einen besonderen Wert auf den ganzheitlichen Blick auf unterschiedliche Lebenslagen. Wohlgemerkt: Dieses Modell gab es zum Gründungszeitpunkt in der Theorie erst 7 Jahre.

Primärversorgung ist, wenn man den Namen wortwörtlich nimmt, die erste Versorgungs-Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten – im österreichischen Konzept primär medizinisch angelegt und ergänzt durch unterschiedliche Berufe, wie DGKP, Public Health, Physiotherapie, Sozialarbeit, Psychotherapie, etc. Sie soll einen Beitrag zur Gesundheitsförderung sowie Krankheitsprävention in der Bevölkerung leisten und im Optimalfall den stationären Bereich entlasten [2]. Wie schon in den ersten Zeilen erwähnt, gibt es meistens ein größeres Vertrauensverhältnis zur Hausärztin oder zum Hausarzt als zur größeren Institution Krankenhaus. Das haben schließlich die Primärversorgung im SMZ und die Stadtteilarbeit gemeinsam. Letztere bietet den Menschen im Stadtteil einen offenen Raum um sich zu beteiligen und Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Außerdem gibt es keine Zugangsbarrieren oder -voraussetzungen. Jede und jeder kann hereinschauen und teilnehmen.

Die Offenheit der Stadtteil- und Nachbarschaftsarbeit bietet eine Menge an Möglichkeiten, mit Menschen am Zusammenleben zu arbeiten, Aufklärungsarbeit zu leisten und eben Zugänge zum Sozialsystem oder anderen Angeboten zu erleichtern.

Umgang mit Gewaltthemen

Gewalt ist strafbar. Punkt. Egal, ob es sich um eine körperliche, sexualisierte, psychische, ökonomische oder strukturelle Form handelt. Dass Gewalt nicht immer als solche erkannt oder darüber geschwiegen wird, ist eine andere Geschichte. Deshalb ist es unsere Aufgabe speziell im Sozial- und Gesundheitsbereich, aufmerksam zu sein und jegliche Anzeichen ernst zu nehmen. Aber nicht nur dort soll das passieren: Am besten überall, weil eben jede:r von Gewalt betroffen sein kann.

Im Stadtteilzentrum können die Gemeinschaftsprojekte, wie beispielsweise gemeinsames Kochen oder Musizieren dazu beitragen, dass Menschen ins Gespräch kommen und sich anderen anvertrauen. Oft kommen eher Leute zu uns, die nicht so ein großes soziales Umfeld haben und Kontakt suchen. Auch sie können von unterschiedlichen Formen der Gewalt betroffen sein: Eine ältere Person, die mangels Internetzugang kaum einen Zugang zu wichtigen Informationen bekommt oder jemand, der:die durch eine Behinderung Diskriminierung erfährt. Es gibt genügend Menschen, die in einer problematischen finanziellen Abhängigkeit leben und nur ein "Taschengeld" zum Leben bekommen. Und es gibt viel zu viele Frauen, die von Partnergewalt betroffen sind.

Manche Bewohner:innen sind aber auch schon sehr aufmerksam und lassen uns an ihren Sorgen um Nachbarinnen und Nachbarn, Freunde oder Bekannte teilhaben.

Durch unsere offene Haltung in Beratungsgesprächen kann ein sicherer Ort für Menschen entstehen, in dem sie ihre Gedanken und Erfahrungen mit uns teilen möchten. Im nächsten Schritt ist es unter anderem durch ein Sozialrezept möglich, zu den richtigen Angeboten weiterzuvermitteln oder zu begleiten. Das kann in Richtung Gewaltschutz- oder Kinderschutzzentrum gehen oder eine Überweisung zum Frauenhaus betreffen. Seit kurzem gibt es in Graz die Gewaltambulanz an der Medizinischen Universität Graz, die in akuten Fällen sexueller und/oder körperlicher Gewalt Untersuchungen übernimmt.

Fokus auf Gewalt an älteren Menschen

In den Projekten in der Stadtteilarbeit sowie in der Primärversorgung begegnen wir vielen Menschen, die bereits das Pensionsalter erreicht haben. Vor allem die Angebote, bei welchen gemeinsam gekocht und gegessen wird oder man einfach zum Reden zusammenkommt, sind von Frauen über 65 Jahren gut besucht. In der Nachbarschaftsarbeit - vor allem bei Haustürgesprächen - fallen uns alleinlebende ältere Personen – an dieser Stelle Männer und Frauen – zunehmend auf. Des Öfteren sind diese mit finanziellen Nöten oder Abhängigkeiten konfrontiert. Bei unseren Hausärztinnen und Hausärzten sitzen tagtäglich Menschen, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, (auch) regelmäßigen sozialen Kontakt über ihre medizinischen Anliegen zu erhalten. An einigen Ecken und Enden macht sich für uns Einsamkeit bemerkbar, die unerträglich sein kann.

Wenn es weiters um Fragen der Versorgung von Menschen geht, die im Alter krank werden und nicht mehr selbstständig leben können, beraten wir Betroffene sowie Angehörige. Da spielen nicht nur finanzielle Unterstützungsleistungen eine große Rolle, sondern auch Fragen rund um eine komplett neue soziale Lebenssituation, die für Betroffene mit großer Scham verbunden sein kann. Angehörige und 24-Stunden-Betreuer:innen sind oft überfordert, vor allem wenn Erkrankungen wie Demenz hinzukommen.

Primärversorgung kann in diesen Fällen durch ein interdisziplinäres Team Rückhalt geben, die Stadtteilarbeit eine Plattform für Austausch und Gemeinschaft bieten. Durch das Soziale Rezept vermitteln wir nicht nur an interne, sondern ebenso an externe Angebote weiter: beispielsweise die örtliche Hauskrankenpflege, Besuchsdienste, Tageszentren, gerontopsychiatrische Dienste oder Selbsthilfegruppen für Angehörige speziell zum Thema Demenz.

Auch wenn damit nie alle Bedarfe lückenlos erkannt und gedeckt werden können, gibt es in unserem Konzept unzählige Möglichkeiten, ältere Menschen zu erreichen, die von Gewalt betroffen sein könnten. Durch eine wertschätzende Haltung und den Aufbau einer stabilen Beratungsbeziehung können belastende Situationen frühzeitig erkannt und eine Entlastung ermöglicht werden. Auch wenn das nicht immer funktioniert, weil beispielsweise die Unterstützung in diesem Moment nicht angenommen werden kann, zeigt unsere Erfahrung, dass Betroffene und Angehörige von einem weitreichenden, gut gepflegten Netzwerk einer Einrichtung und geschulten Mitarbeiter:innen profitieren.

Quellen

Weiterführende Informationen