Tabu: Sexualisierte Gewalt gegen ältere Frauen*

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Ältere Frauen als Betroffene von sexualisierter Gewalt sind nicht nur im Beratungsalltag von Fraueneinrichtungen kaum vertreten, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung quasi unsichtbar. Der Beitrag von Frau DSA Ursula Kussyk, Obfrau des BAFÖ und Leiterin der Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt, Wien, zeigt die Hintergründe auf und analysiert die multiplen Problemlagen dieser speziellen Opfergruppe.

Autorin:  DSA Ursula Kussyk Obfrau des BAFÖ, Leiterin der Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt, Wien

Thema Oktober 2023

Beispiele aus der Medienberichterstattung

Stand: 6. September 2023

BeispielBeispiel

Am Abend des 23. August wurde eine über 80-jährige Seniorin in Ingolstadt Opfer einer Sexualstraftat. Laut der oberbayrischen Polizei vergewaltigten zwei Männer die an Demenz erkrankte Frau in ihrer Wohnung. Dabei wurden sie von einer Pflegerin überrascht, die die Polizei verständigte. Merkur.de, 31.08.2023

Im Mühlviertel soll ein Pfleger eine 82-Jährige, psychisch beeinträchtige Frau sexuell missbraucht haben. Der Mann sitzt in Untersuchungshaft. ORF.at, 10.12.2022

In der Steiermark wurde Samstagfrüh eine 89-Jährige bei einem morgendlichen Spaziergang von einem jungen Mann sexuell belästigt und attackiert. OE24, 06.03.2022

Marginalisierung älterer Frauen* als Betroffene von sexualisierter Gewalt

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen*[1] ist spätestens seit der #MeToo Bewegung und nicht zuletzt durch aktuelle Fälle wie Rammstein Thema im öffentlichen Diskurs. Sexualisierte Gewalt gegen ältere[2] Frauen* hingegen wird meistens verschwiegen, oft sogar geleugnet.

Dieses Marginalisieren von älteren Frauen* als Betroffene von sexualisierter Gewalt liegt daran, dass bereits das positive Erleben von Sexualität im Alter in unserer Gesellschaft tabuisiert ist.

Es herrscht die weit verbreitete Ansicht, dass sexuelle Aktivitäten bei älteren Menschen sich auf Zärtlichkeit oder bloßes zueinander lieb sein reduzieren und alles was darüber hinausgeht, wie der vollzogene Geschlechtsakt oder Masturbation eher als schmutzig, pervertiert oder gar krankhaft gesehen werden (vgl. Faber A., Faber D., 2017).

Reduziert man Menschen dementsprechend auf ihren sogenannten fuckability factor, so ist festzustellen, dass speziell Frauen* im Alter in der öffentlichen Wahrnehmung immer weniger als begehrenswert und interessant gelten, quasi langsam unsichtbar werden.

Diese allgemeinen Ansichten zu sexuellen Aktivitäten von alten Menschen und zur erotischen Wahrnehmung älterer Frauen* sind hinterfragbar:

Eine Studie zu Sex im Alter von Berliner Forschern hat Aussagen der Generation 60+ mit Umfragen unter jüngeren Erwachsenen verglichen und kam zu folgenden Ergebnissen:

Sexualität im Alter ist anders, die Fähigkeit, Intimität zu erleben, bleibt im Alter aber fast unberührt. Obwohl die älteren Erwachsenen im Durchschnitt weniger sexuell aktiv sind als die jungen, ist fast ein Drittel der 60- bis 80-Jährigen häufiger sexuell aktiv und hat häufiger sexuelle Gedanken als der Durchschnitt der 20- bis 30-Jährigen.[3]

Zahlen und Fakten

Eine FRA‑Erhebung zu Gewalt gegen Frauen in der EU hat gezeigt, dass 1% der Frauen zwischen 50-59 Jahren und Frauen im Alter von 60+ in den letzten 12 Monaten vor dem Interview sexualisierte Gewalt erlebt hatten und 8% der 50-59-Jährigen sowie 3% der Frauen im Segment 60+ in den letzten 12 Monaten vor dem Interview sexuell belästigt wurden.[4]

Die aktuellste, 2011 veröffentlichte „Österreichische Prävalenzstudie zur Gewalt an Frauen und Männern“ des Österreichischen Instituts für Familienforschung (ÖIF)[5] lieferte zur Prävalenz seit dem 16. Lebensjahr folgende Werte: 51-60-jährige Frauen haben hinsichtlich des Erlebens sexualisierter Gewalt eine Prävalenz von 40,8% und hinsichtlich sexueller Belästigung eine Prävalenz von 74,3%.

Als Täter wurden in dieser Studie von den in den letzten 3 Jahren von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen zwischen 50 und 60 Jahren am häufigsten der aktuelle Partner (23,33%) und eine männliche bekannte Person (nicht aus Familie oder Freundeskreis) (23,33%) genannt, dann folgen ein Freund/Bekannter (20%), der Ex-Partner (16,67%), eine männliche unbekannte Person (10%) und der Nachbar (3,33%). Das zeigt, dass zumindest bei Frauen bis zum 60. Lebensjahr die Tätergruppen weit gestreut sind.

Geringe Fallzahlen in Fraueneinrichtungen und bei Anzeigen

Aus unserer eigenen Erfahrung als österreichische Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt und durch den Austausch mit Kolleginnen aus anderen Fraueneinrichtungen, die auf Gewalt spezialisiert sind, wissen wir, dass sich nur wenige Frauen aus dem Alterssegment 50+ professionelle Hilfe holen.

Auch die Anzeigebereitschaft nimmt mit dem Alter ab: Beispielsweise erstatteten fünf Frauen mit 65+ im Jahr 2021 Anzeige wegen einer Vergewaltigung nach § 201 (Anzeigen gesamt: 998), drei Frauen in dieser Altersgruppe brachten geschlechtliche Nötigung nach § 202 zur Anzeige (Anzeigen gesamt 200) und es gab nur acht Anzeigen wegen sexuellem Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach §205 (Anzeigen gesamt 214).[6]

Unterstützung für Betroffene

Seit 2019 gibt es in jedem Bundesland eine Frauenberatungsstelle bei sexueller Gewalt. Diese neun Mitgliedseinrichtungen des BAFÖ (Bund Autonome Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt Österreich) unterstützen Betroffene durch verschiedene Beratungs- und Begleitungsangebote und helfen sowohl psychosozial als auch rechtlich, die erlebte Gewalt zu bewältigen.

Die Angebote beinhalten:

  • psychosoziale Beratung und Begleitung (kurz-, mittel- und langfristig)
  • Beratung für nahestehende Personen (Angehörige, Partner:innen, Lehrer:innen und Sozialberater:innen)
  • Anzeigenberatung
    psychosoziale und juristische Prozessbegleitung
  • Vernetzung mit Kooperationspartner:innen zum Thema sexuelle Gewalt
  • Prävention
  • Aufklärung und Bildung
  • Informationsservice zu sämtlichen Fakten rund um das Thema sexuelle/sexualisierte Gewalt gegen Frauen*

Beratung und Begleitung sind kostenlos, vertraulich und auf Wunsch anonym, solange keine Anzeige erstattet wird. Die fachlichen Grundlagen bilden die Qualitätsstandards des BAFÖ.

Herausforderungen bei der Unterstützung von älteren Frauen* als Betroffene sexualisierter Gewalt

  • Finanzielle und soziale Abhängigkeit vom Partner, Ängste vor einschneidenden Lebensveränderungen, vor dem Alleinsein, vor Isolation.
  • Übergriffe von Gesundheitspersonal, beispielsweise Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Ärzte.
  • Absprechen von bzw. Misstrauen gegenüber dem Erlebten seitens Vertrauenspersonen, Bagatellisieren, Unterstellen von Demenz (oft auch als Argument in Gerichtsverfahren)
  • Mögliche altersbedingte Mobilitätseinschränkungen, Aspekte des Pflegebedarfs, dementsprechender Mehraufwand an Organisation
  • Zur psychischen Belastung durch das Erleben von sexualisierter Gewalt kommen noch der Stress und die körperliche Anstrengung, Termine wahrzunehmen, hinzu.
  • Leidet die Klientin tatsächlich an beginnender Demenz, verkompliziert das nicht nur die Kommunikation, sondern auch das Verstehen der geschilderten Grenzverletzungen. Müssen die Betroffenen dann unter üblichen Bedingungen aussagen, besteht die erhöhte Gefahr einer massiven Verschlechterung der Belastungsreaktion.
  • Gibt es Pflegebedarf, sind es selten die Opfer selbst, die den ersten Kontakt mit der Beratungsstelle aufnehmen. Allgemein gilt für ältere Frauen als Betroffene von sexualisierter Gewalt, dass der Zugang meist über die Initiative von Dritten erfolgt. Vor allem sind es andere (jüngere) Familienmitglieder oder mit der Pflege betrauten Personen (24-Hilfe, mobiler Dienst etc.).
  • Es fehlen Angebote für gewaltbetroffene Frauen mit Pflegebedarf. Frauenhäuser können die Pflege nicht leisten, Übergangspflegeplätze können den Schutz nicht bieten.
    • Fallbeispiel: Eine ältere Frau mit Pflegebedarf erlebt sexualisierte Gewalt durch ihren mit der Pflege betrauten Ehemann. Die Unterbringung in einer Pflegeeinrichtungen würde den Verlust des Pflegegeldes für den Ehemann bedeuten, weswegen dieser ganz massiv dagegen Druck macht und eine Aufnahme vereitelt. Die Auseinandersetzung mit dem aggressiven, widerständigen Ehemann ist für die infrage kommenden Pflegeanbieter mit freiem Platz nicht tragbar. Eine Wegweisung durch die Polizei wiederum wäre aufgrund der mangelnden Pflege nur schwer möglich, denn die nötige 24h-Pflege ist zu teuer, da die Frau keine eigene Pension bezieht.
  • Ältere Frauen als Opfer von sexualisierter Gewalt haben häufig Hemmungen, sich an Beratungsstellen zu wenden oder sich überhaupt jemandem anzuvertrauen, weil sie aufgrund des Alters dem Opferstereotyp nicht entsprechen und damit rechnen, dass ihnen niemand glaubt. Häufig sind es eher die Kinder oder Enkelkinder, die eine Veränderung oder Verletzungen bemerken und diesen nachgehen.

Fazit aus der Beratung von älteren Frauen ist, dass die Abhängigkeiten teilweise so massiv sind, dass sie ein großes Hindernis im Hilfesuchverhalten darstellen. Familiäre Strukturen schützen oft die Täter und die Vorstellung, sich eine neue Existenz aufzubauen – häufig mit geringer Eigenpension oder ohne eigene Pension und eigenem Erspartem, zumeist verbunden mit einem Verlust des bekannten sozialen Umfelds - ist für viele Frauen ein unüberwindbares Hindernis.

Maßnahmen für ein besseres Unterstützen

Es gibt zwar immer wieder Bemühungen von Bund und Ländern, sich des Themas anzunehmen und Aktionen zu setzen, doch es braucht breit angelegte Untersuchungen und Datenzusammenführungen für aktuelle Opferstatistiken: Wie viele ältere Frauen (auch hochbetagte) sind tatsächlich betroffen? Welche Problemlagen sind virulent? Welche Best Practices gibt es, welche Synergien zwischen den einzelnen Akteur:innen sind möglich?

Wie bereits erwähnt, wäre es wünschenswert, Wohnplätze für gewaltbetroffene Frauen mit Pflegebedarf zu schaffen.

Im Beratungsalltag fällt uns Expertinnen auf, dass es in Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen an Präventions- und Schutzkonzepten fehlt, ebenso an Fortbildungen zum Thema sexualisierte Gewalt. Letztere wären auch aufgrund von Personalwechsel regelmäßig notwendig.

Und last but not least braucht es österreichweite Kampagnen – sowohl zu Sexualität und sexueller Gesundheit im Alter, als auch zur Gefahr sexualisierter Übergriffe und den entsprechenden Hilfsangeboten.

Verweise

  • [1] Wir verstehen unter der Kategorie Frauen, Menschen, die sich als Frauen identifizieren.
  • [2] Mit älteren Frauen* sind hier Frauen* ab 50 Jahren gemeint.
  • [3] Studie von Wissenschaftlern unter anderem der Humboldt-Universität zu Berlin (HU), der Charité – Universitätsmedizin Berlin, des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) und des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) im Rahmen der Berliner Altersstudie II (BASE-II) Daten von 60- bis 80-Jährigen mit Blick auf ihre sexuelle Aktivität, sexuelle Gedanken und Intimität (Psychology and Aging 2019, 34: 389-404).
  • [4] Violence against women
  • [5] Leider beschränkt sich die Studie auf Menschen bis 60 Jahre.
  • [6] 5 Kriminalitätsbericht 2021

Weiterführende Informationen