Über die Notwendigkeit psychische Gewalt in den Fokus zu rücken

Portrait Birgit Mavija

Birgit Mavija beleuchtet die Notwendigkeit, psychische Gewalt in den Fokus des Gewaltdiskurses zu rücken. Ausgehend von Auswirkungen und Risikofaktoren von psychischer Gewalt konkludiert sie auf präventive Ansätze und Schutzmaßnahmen.

Autorin: Mag.a Birgit Mavija, Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision, Standortleitung des im November 2022 neu eröffneten Kinderschutzzentrum DELFI Spittal an der Drau der Österreichischen Kinderfreunde Landesorganisation Kärnten/Koroška

Thema Jänner 2024

Delfi Kärnten, Kinderschutzzentren, Kinderfreunde - Logo

In vielen Diskursen rund um das Thema Gewalt – sei es im wissenschaftlichen, politischen oder medialen Kontext – nimmt psychische Gewalt einen untergeordneten Stellenwert ein. Ihre periphere Position in den unterschiedlichsten Publikationen ist wenig nachvollziehbar, ganz besonders in Hinblick auf die Tatsache, dass die negativen und oftmals gravierenden Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ebenso massiv sein können als bei allen anderen Gewaltformen.

Richtet man den Blick auf das Kriterium der Prävalenz, sticht heraus, dass psychische Gewalt am häufigsten und in allen Gesellschaftsschichten vorkommt und vorwiegend ein grundlegender Teil der anderen Formen von Gewalt – etwa physischer oder sexueller – ist. Anders ausgedrückt, begleitet sie alle Formen von Misshandlungen, wird als solche jedoch allenfalls übersehen oder als zweitrangig klassifiziert. Diesem Trend muss Kinderschutzarbeit entgegenwirken, indem sie ihren Fokus absichtsvoll und dezidiert auch auf psychische Gewalt richtet.

Psychische Gewalt kann in den unterschiedlichsten Lebens- und Wirkungsbereichen von Kindern und Jugendlichen geschehen – und zwar sowohl inner- als auch außerfamiliär, letzteres etwa in öffentlichen Institutionen, Vereinen oder im Internet, um nur einige zu nennen. Dennoch ist sie schwer greifbar, bleibt oft unerkannt, hinterlässt weniger offensichtliche Spuren in Form von sichtbaren Verletzungen oder Wunden und ist oftmals schwer in Worte zu fassen – insbesondere für Kinder und Jugendliche. Was nicht verbalisiert werden kann, bleibt viel zu oft nicht erkennbar.

Definition(en) von psychischer Gewalt

Vor diesem Hintergrund ist die Definitionsfrage von besonderem Interesse. Eine einheitliche Definition gibt es bisher nicht. Dies kann einerseits auf die Abgrenzungsproblematik zurückgeführt werden:

"Die Grenze zwischen üblichen und weitgehend tolerierten, auf psychischen Druck basierenden Erziehungspraktiken (z. B. Hausarrest, Liebesentzug, Schimpfen) und psychisch beschädigendem Elternverhalten ist fließend." (Kinderschutzzentrum Berlin e.V. 2009, Seite 47 [3])

Beschreibungsversuche fokussieren abgesehen von der Festlegung der dieser Gewaltform zuordenbaren Handlungen oftmals den Beziehungsbegriff:

Psychische Gewalt "umfasst chronische qualitativ und quantitativ ungeeignete und unzureichende, altersinadäquate Handlungen und Beziehungsformen von Erwachsenen zu Kindern." (Kinderschutzzentrum Berlin e.V. 2009, Seite 47 [3])

Mit dem Ziel, möglichst viele Facetten dieser begrifflichen Bandbreite zu betrachten, wird im Folgenden eine Einteilung anhand der 2 Begriffe Handlungen und Beziehung versucht. Unter dem Begriff psychischer Gewalt werden u. a. folgende Handlungen subsumiert:

  • Beschimpfungen, Abwertungen, entwürdigende Bezeichnungen und Diffamierungen
  • Drohungen, Nötigungen und Angstmachen
  • Isolation, Kontakt- und Kommunikationsverbote, Einschränkung von Autonomiebestrebungen
  • Ablehnung und Liebesentzug
  • Schuldzuweisungen für gesundheitliche Beeinträchtigungen
  • unverhältnismäßige Verantwortungsevokation für Befindlichkeiten Erwachsener
  • emotionale Erpressung

Unter dem Begriff psychischer Gewalt werden Eltern-Kind-Beziehungen subsumiert, auf die folgendes zutrifft:

  • Instrumentalisierung der Kinder für (narzisstischen) Bedürfnisse von Erwachsenen oder als Partnerersatz
  • Projektion eigener Wunschvorstellungen auf die Kinder, die diese stellvertretend realisieren sollen
  • Parentifizierung

Sonderformen psychischer Gewalt

Sonderformen psychischer Gewalt, die in der Kinderschutzarbeit immer wieder aufpoppen, sind einerseits hochstrittige und eskalierende Elternkonflikte nach Trennung beziehungsweise Scheidung und andererseits Mobbing. Letzteres ist definiert als psychische Gewalt mit folgendem Charakteristikum: das wiederholte und regelmäßige, vorwiegend seelische Misshandeln, Quälen und Verletzen eines einzelnen Menschen durch eine Gruppe von Personen. Mobbing kann in der Familie erfolgen, in Peergroups, in der Schule und immer mehr auch in den unüberschaubaren Weiten des Internets. Mobbing in der direkten Lebensrealität ist meist auf einen Ort oder mehrere Orte beschränkt, die gemieden werden können. Im Falle von Cybermobbing stehen keine sicheren Rückzugsorte mehr zur Verfügung, die Verbreitung diffamierender Inhalte erfolgt schnell und zudem rund um die Uhr.

Hochbelastend und entwicklungsgefährdend sind hochstrittige Elternkonflikte, die sich durch folgende Dynamiken nach Trennungen auszeichnen:

  • Der Fokus eines beziehungsweise beider Elternteile liegt nicht auf den Kindern, sondern ein aus der eigenen Kränkung erklärbares undifferenziertes Agieren bestimmt jegliche Aktion und Intervention der Eltern.
  • Das Streitniveau bleibt konstant und zeigt keine Tendenz zur Abnahme, Konflikte flammen immer wieder erneut auf.
  • Die Argumentation kreist um irrationale, für Außenstehende oft gar nicht nachvollziehbare Argumentationen.
  • Mediatons-, Beratungs- und Unterstützungsangebote zeigen keinen Erfolg.

Mit einem kinderschutzspezifischen Blick muss herausgestellt werden, dass Hilfsmaßnahmen und Interventionen zum Schutz von Kindern, die diesen Dynamiken ausgesetzt sind, eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Im Rahmen des diesjährigen Fachaustausches der Österreichischen Kinderschutzzentren zum Thema "Kinder im Bermudadreieck" – Kinderschutz und Hochstrittigkeit verwies der Rechtspsychologe und forensische Gutachter, Dr. Jörg Fichtner, u. a. darauf, dass die Belastungsreaktionen von Kindern nach nicht hochkonflikthaften Trennungen nach einem Jahr zunehmend weniger werden und eine Stabilisierung eintritt. Diese bleibt bei hochstrittigen Trennungen aus und die Belastung bleibt über Jahre auf dem anfänglich hohen Niveau.  

Auswirkungen psychischer Gewalt auf Kinder und Jugendliche

Auswirkungen psychischer Gewalt auf Kinder und Jugendliche sind nicht einheitlich, sondern von individuellen Voraussetzungen sowie dem Gewaltkontext abhängig. Zu den individuellen Faktoren zählen etwa Alter, bisherige Bindungserfahrungen oder Resilienz; außerfamiliäre psychische Gewalt kann bei stabilen innerfamiliären Beziehungen weniger zerstörerisch sein beziehungsweise in einem stabilen stärkenden Beziehungsnetz aufgefangen werden.

Trotz dieser Unterschiede ist die psychische Gewalt in den allermeisten Fällen jedoch fundamental, gravierend und schwerwiegend, insbesondere mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung: Die Zerstörung eines positiven Selbstbildes beziehungsweise -wertes ist eine häufige Folgeerscheinung: psychische Gewalt evoziert in den jungen Menschen das Gefühl, wertlos, fehlerhaft, ungeliebt und ungewollt zu sein. Gepaart mit der Wahrnehmung, nichts richtig machen zu können – gewissermaßen "falsch" zu sein. Eine Übernahme negativer Selbstzuschreibungen ins Selbstbild sowie Resignation sind häufige Folgen. Kinder fühlen sich darüber hinaus für die ihnen von den Eltern zugefügte Gewalt schuldig.

Erlebte psychische Gewalt führt zu Kontaktschwierigkeiten. Im zwischenmenschlichen Kontakt wird ablehnendes, entwürdigendes Verhalten des Gegenübers antizipiert. Häufig führt dies zu problembehafteten Beziehungen oder auch zu einer Überangepasstheit gegenüber Autoritäten. Psychische Gewalt legt immense Stolpersteine auf den Lebensweg, die die Entwicklung des Kindes zu einem selbstbestimmten, sich selbst verwirklichenden im Leben gefestigten Individuum verhindern beziehungsweise unterbinden.

Psychosomatische Beschwerden, Depressionen, Ess- und Angststörungen, schlechtere schulische Leistungen, Bindungsstörungen, Neigung zu Gewalt und antisozialem Verhalten, ausgeprägtes Suchtverhalten und höhere Neigung zu Suizidalität sind häufige Folgen psychischer Gewalt.

Risikofaktoren für psychische Gewalt im familiären Kontext

Die Frage nach dem Schutz vor psychischer Gewalt ist eng an die Frage nach möglichen Risikofaktoren geknüpft: In Anlehnung an Mertes werden diese im Folgenden kurz umrissen (vgl. Mertes 2013, S. 44-56 [4]).

Risikofaktoren bei den Eltern

  • Unbearbeitete (Gewalt-)Erfahrungen in der eigenen Kindheit: 
    Das Erlebte macht es einerseits schwierig, psychische Gewalt als solche zu erkennen und erschwert andererseits den Rollenwechsel in die kindliche Perspektive.
  • Innere Ablehnung des Kindes: 
    Ursachen für die Ablehnung des Kindes können u. a. ungewollte Schwangerschaften, Erkrankungen oder Beeinträchtigungen des Kindes oder Ablehnung des anderen Elternteils des Kindes sein.
  • Psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen
  • Narzisstische Bedürftigkeit der Eltern: 
    Von Seiten der Eltern besteht die nicht realisierbare Erwartung, von den eigenen Kindern bedingungslos geliebt zu werden.
  • Elterliche Kompetenzen und Kenntnisse: 
    Bei fehlendem beziehungsweise mangelhaftem Wissen um die kindliche Entwicklung ist es schwierig, realistische Erwartungen an das kindliche Verhalten zu entwickeln. Mangelnde Empathiefähigkeit und fehlende elterliche Feinfühligkeit können zu inadäquaten Verhalten den Kindern gegenüber führen.

Abgesehen davon werden folgende Faktoren als Risiko genannt: elterliche Konflikte, Alter der Eltern, Familiengröße und unsichere Eltern-Kind-Bindung(en). Außerfamiliäre Risikofaktoren sind Armut, soziale Not beziehungsweise Isolation. Auf der Seite der Kinder bergen folgende Faktoren ein Risiko: Frühgeburtlichkeit, Erkrankungen, Beeinträchtigungen sowie anspruchsvolles Temperament.

Schutz vor psychischer Gewalt

Um Kinder vor psychischer Gewalt zu schützen, sind Interventionen auf verschiedenen Ebenen nötig. Auf der einen Seite muss ein Bewusstsein in der Gesellschaft für diese Form der Gewalt geschaffen werden. Die Randposition psychischer Gewalt im Diskurs muss überwunden werden und sie muss vermehrt in den Blick der Öffentlichkeit geraten.

In Hinblick auf die beschriebenen Risikofaktoren braucht es andererseits effektive präventive Programme und Unterstützungssystemen für betroffene Familien. Präventiv in Form von Informationsveranstaltungen zu Ursachen und Auswirkungen psychischer Gewalt sowie Vorträgen zu spezifischen Themen (Entwicklung des Kindes, Bedürfnisse von Kindern, Selbstfürsorge, u.v.m.). Ebenso präventiv wirken Angebote zur Förderung früher positiver Bindungserfahrungen bei Risikofamilien, als wichtiger Schutzfaktor vor psychischer Gewalt. Zur Unterbrechung der Gewaltspirale braucht es auch Angebote für Eltern, die ihnen Möglichkeit(en) zur Bearbeitung eigener Gewalterfahrungen ermöglichen.

Erleben Kinder psychische Gewalt, brauchen sie professionelle Unterstützung. Eine Anlaufstelle bieten die Kinderschutzzentren, die in allen österreichischen Bundesländern verortet sind. 

TippTipp

Als ein Unterstützungstool für die Arbeit mit betroffenen Kindern hat der Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren im Auftrag des Bundeskanzleramts, Abteilung Familien und Jugend eine Kinderbuch-Reihe zu wichtigen Kinderschutzthemen entwickelt, darunter auch "Bessere Aussichten" zum Thema psychischer Gewalt.

Kinderbuch-Cover "Bessere Aussichten"

Kinderbuch "Bessere Aussichten" 
Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren 
Wien, 2019
ISBN 978-3-200-06688-5 
Kinderbuch "Bessere Aussichten" Download und Bestellmöglichkeit

Literatur

  • [1] Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren: Bessere Aussichten. Kinder im Nebel psychischer Gewalt. 2019

  • [2] Die Kinderschutzzentren: Positionspapier zur Psychischen Gewalt und Emotionalen Vernachlässigung von Kindern. Köln, Mai 2022

  • [3] Kinderschutzzentrum Berlin e.V. (Hg): Kindeswohlgefährdung. Erkennen und Helfen. 11. überarbeitete Auflage: Berlin. 2009 

  • [4] Mertes, Lilli: Psychische Gewalt in der Eltern-Kind-Beziehung. Risikofaktoren und Erkennungschancen. Hamburg: Diplomica. 2013

Weiterführende Informationen