Intersektionalität in der feministischen Beratung

Portrait Kamucote

"Wenn der Feminismus sich nicht ausdrücklich gegen Rassismus wendet und Antirassismus keine Opposition gegen das Patriachat einschließt, dann geraten am Ende beide in einen Widerstreit und beide Interessen verlieren." (Kimberlé Crenshaw)

Intersektionalität in der feministischen Beratung ist ein Muss. Aus diesem Grund befasst sich der Verein mafalda in der Beratung, und darüber hinaus, mit diesem Thema. Der folgende Text soll dies nochmals näher beschreiben.

Autorin: Adjanie Kamucote, MA, Offene Jugendarbeit in der Beratungsstelle des Vereins mafalda; Sozialarbeiterin und -pädagogin, Dipl. Mentaltrainerin, Autorin und Aktivistin. Als Antirassismus-Trainerin leistet sie Antidiskriminierungs-Arbeit in Form von Workshops und Beratung in Aus- und Fortbildungsstätten, Vereinen, Firmen und Organisationen. Schwerpunkte: unter anderem Rassismus, Sexismus und Intersektionalität, Schwarzer Feminismus und Critical.
Whiteness Kamucote betreibt auf ihrem Instagramblog Onlineaktivismus @herlife.afroe, ist Mitbegründerin von MELANIN TALK @melanin_talk_, einer Plattform zur Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit, und von D!SRUPT – Verein für diskriminierungskritische und rassismuskritische Bildungsarbeit und politische Teilhabe @disruptverein.

Thema Juni 2024

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"Rassismus gedeiht da, wo er geleugnet wird." (Doudou Diène, Jurist und ehemaliger Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen [1]).

Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir überall auf Rassismus stoßen. Angefangen bei Spielzeug und in Kinderbüchern, in der Literatur, in der Medizin, in der Werbung bis hin zur Politik – es gibt keine rassismusfreien Räume. Auch nicht in der feministischen Arbeit.

In einer eurozentrischen weißen Dominanzgesellschaft wird so einiges aus dem Auge des globalen Nordens gesehen und gedacht.

Was hat Rassismus mit Feminismus zu tun?

Viele feministische Strömungen sind geprägt von der weißen Dominanzgesellschaft. Sei es bei Forderungen, die gestellt werden, oder die Hilfe und Aktionen, die angeboten werden – sie sind oft rassistisch geprägt.

Bereits Sojourner Truth – eine ehemalige Sklavin, Evangelistin, Freiheitskämpferin und Frauenrechtsaktivistin – weist darauf hin. Mit ihrer berühmten Rede auf dem Frauenkongress 1851 "Ain`t I a Woman?" hinterfragt sie vor dem Publikum – alles weiße Frauen – die Sichtweise der damaligen feministischen Bewegung. Ebenso macht sie auf die kapitalistische Ausbeutung Schwarzer Frauen* aufmerksam.

"Der Mann sagt, dass Frauen beim Einsteigen in eine Kutsche geholfen werden müsse, und auch beim Überqueren von Gräben und dass ihnen überall der beste Platz zustehe. Mir hat noch nie jemand in einen Wagen geholfen oder über eine Schlammpfütze oder den besten Platz überlassen. Bin ich etwa keine Frau? Sehen Sie mich an! Sehen Sie sich meinen Arm an! Ich habe gepflügt, gepflanzt und die Ernte eingebracht, und kein Mann hat mir gesagt, was zu tun war! Bin ich etwa keine Frau*? Ich konnte so viel arbeiten und so viel essen wie ein Mann – wenn ich genug bekam – und die Peitsche konnte ich genauso gut ertragen! Bin ich etwa keine Frau*? Ich habe 13 Kinder geboren und erlebt, wie die meisten von ihnen in die Versklavung verkauft wurden, und wenn ich um sie weinte, hörte mich keiner außer Jesus! Bin ich etwa keine Frau*?" (Sojourner Truth [2])

Angela Davis[3], eine Wissenschaftlerin, Schriftstellerin und Aktivistin, ist eine weitere wichtige Persönlichkeit in dieser Thematik. Sie ist die bekannteste Aktivistin der Black Power Bewegung (Stichwort: Black Panther Party) und des Schwarzen Feminismus. Die Basis in ihren Arbeiten befasst sich immer mit Intersektionalität. In den 69ern greift sie beispielsweise das Thema Schwangerschaft auf. Es war Schwarzen Frauen* nämlich verboten, sich mehrfach fortzupflanzen, was aufgrund der vielen Vergewaltigungen an sie jedoch der Fall war. Somit wurde die Zwangssterilisation dieser Frauen*gruppe erlaubt (= rassistische Geburtenkontrolle). Anders ging es zu dieser Zeit weißen Frauen* – die auf jeden Fall gebären sollten, um das Land wieder auf die Beine zu stellen.

1974 wurde dann das Combahee River Collective[4] in Boston, USA, gegründet. Die Gründerinnen* waren vor allem lesbische Schwarze Frauen*, die die Probleme Schwarzer (lesbischer, queerer) Frauen*, nicht getrennt sehen wollten. Sie übten Kritik an die Schwarze Befreiungsbewegung, die männlich dominiert und sexistisch war, und an die weiße Mittelstandsfrauenbewegung, die von weißen Frauen* dominiert war, aus.

Ein Auszug aus ihrer Rede:

"We are actively committed to struggling against racial, sexual, heterosexual, and class oppression and see as our particular task the development of integrated analysis and practice based upon the fact that the major systems of oppression are interlocking." (Intersectionality 101: What is Intersectionality? [5]) 
("Wir setzen uns aktiv für den Kampf gegen rassistische, sexuelle, heterosexuelle und Klassenunterdrückung ein und sehen unsere besondere Aufgabe darin, eine integrierte Analyse und Praxis zu entwickeln, die auf der Tatsache basiert, dass die großen Unterdrückungssysteme ineinandergreifen.")

Bis zu diesem Zeitpunkt war es weißen Menschen noch nicht so ganz klar, was es mit der Mehrfachdiskriminierung auf sich hat. Erst durch die Arbeit der afroamerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw[6] wurde die Thematik auch für weiße deutlicher. 1989 prägte sie den Begriff Intersektionalität.

Ausschlaggebend war hier die Arbeitsmarktsituation Schwarzer Frauen. Crenshaw trat für 5 Frauen vor Gericht, die ihren Arbeitgeber General Motors klagten. Es war nämlich offensichtlich, dass Schwarze Frauen nach dem Motto "last hired, first fired" nach einer gewissen Zeit nach und nach wieder gekündigt wurden. Die Damen verloren den Fall, da General Motors beweisen konnte, dass sie sowohl Schwarze als auch weiße Mitarbeitende hatten. Jedoch waren diese Schwarzen alle Männer und die Frauen alle weiß. Das Gericht akzeptierte die Mehrfachdiskriminierung nicht und warf den Frauen sogar vor, einen Nutzen (z. B. Geld) aus dem ganzen ziehen zu wollen.

Somit war es nicht aus Langeweile, sondern aus der Notwendigkeit heraus, dass das Konzept der Intersektionalität entstand.

Was bedeutet Intersektionalität?

Der Begriff Intersektionalität stammt aus dem englischen Wort intersection, welches übersetzt unter anderem Überschneidung oder Kreuzung bedeutet.

Crenshaw nimmt für die Erklärung des Konzepts die Metapher einer Straßenkreuzung:

"Ähnlich wie der Verkehr an einer Straßenkreuzung kann Diskriminierung in die eine oder die andere Richtung fließen. Wenn auf der Kreuzung ein Unfall passiert, dann kann er durch Autos verursacht worden sein, die aus verschiedenen und manchmal aus allen Richtungen kommen. Ähnlich sieht es aus, wenn eine Schwarze Frau verletzt wird, weil sie sich auf der Kreuzung befindet: Ihre Verletzung kann das Resultat geschlechtlicher oder rassischer Diskriminierung sein." (Lucy Chebout [7])

Um es deutlicher zu machen: eine Schwarze Frau, die an der Kreuzung steht und verletzt ist, die Ursache könnte sowohl sexistische als auch rassistische Diskriminierung sein.

Wichtig dabei ist, dass die Diskriminierungen nicht einfach miteinander addiert werden und dann ein eindeutiges Ergebnis zu erwarten ist, sondern es wie bei einer Kreuzung zu Überschneidungen kommt.

Weshalb ist es so wichtig, intersektional zu denken und zu handeln?

Ein Beispiel

C. ist eine Woman of Color und erzählt immer wieder von Belästigungen von Männern. Es wird ihr gesagt, dass das, was sie erlebt, Sexismus ist. Catcalling ist ihr Alltag. Es wird mit ihr daran gearbeitet. Sie wird gestärkt dagegen was zu tun und nimmt auch bei unterschiedlichen Workshops teil. Alle geben ihr das Gefühl, dass das, was sie erfährt, nicht in Ordnung ist und was getan werden muss. Doch ganz aufgehoben fühlt sie sich nicht. In den Workshops merkt sie, dass sie nicht ganz die gleichen Erfahrungen macht, wie die weißen Mädchen* und jungen Frauen*. Sie glaubt, es hat mit ihrer Hautfarbe zu tun, kann es aber nicht benennen und die Trainerin scheint dies auch nicht ganz wahrzunehmen.

In der Arbeit mit Mädchen* und jungen Frauen* mit unterschiedlichsten Lebensrealitäten ist es von großer Bedeutung, das ganze Große zu brachten. Es reicht hier nicht nur auf einen Aspekt zu schauen beziehungsweise ihre Geschichte nur beschränkt zu sehen. Es bedarf einer breiteren Sichtweise. Bei einem Schwarzen Mädchen* oder einer Woman* of Color die Hautfarbe außer Acht zu lassen, bedeutet Ignoranz.

Aussagen wie "Ich sehe keine Farben.", "Für mich sind alle Menschen gleich, egal woher sie kommen oder welche Hautfarbe sie haben." etc. sind fahrlässig und es bedeutet, man lässt die Erfahrungen, die die Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Ethnie oder Hautfarbe machen, außer Acht, nämlich Rassismus. Dieses Phänomen wird auch Colorblind genannt.

Zurück zum Beispiel

C. kann ihre Erfahrungen nicht genau einordnen, weil ihr das Werkzeug fehlt und sie sich nicht traut, die Trainerin drauf anzusprechen, weil diese nicht den Anschein macht, mitzubedenken, dass C. aufgrund ihrer Hautfarbe exotisierende Sexismuserfahrungen erlebt.

Was kann ich tun?

In der Arbeit mit Mädchen* und Frauen* ist es wichtig, sich als Fachkraft bewusst zu sein, dass Rassimus alltäglich und überall vorkommt. Um dies auch wirklich zu erkennen, schlage ich folgende zehn Tipps vor:

  1. Informiere dich
  2. Erkenne deine Privilegien
  3. Hör zu
  4. Beschäftige dich mit deinem eigenen Rassismus
  5. Benenne Rassismus
  6. Misch dich ein und zeig Solidarität
  7. Sprich nicht für andere
  8. Achte auf deine Sprache
  9. Unterschreibe Petitionen
  10. Bleib offen und kritikfähig

Was mit den 10 Tipps genauer gemeint ist, kann unter anderem bei einem Workshop der Verfasserin Adjanie Kamucote erfragt werden.

Quellen

  • [1] Ö1. Religion und Rassismus. 14.Oktober 2020
  • [2] Sojourner Truth (1851). Bin ich etwa keine Frau*. In: Kelly, Natasha A. (Hg.). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast Verlag. S.15f.
  • [3] Angela Davis (1971). Reflexion über die Rolle der Schwarzen Frau* in der versklavten Community. In: Kelly, Natasha A. (Hg.). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast Verlag. S.17–46
  • [4] The Combahee River Collective (1977). Ein Schwarzes feministisches Statement. In: Kelly, Natasha A. (Hg.). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast Verlag. S.47–60
  • [5] Intersectionality 101: What is Intersectionality?
  • [6] Kimberlé Crenshaw (1989). Das Zusammenwirken von Race und Gender ins Zentrum rücken: Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feminitischen Theorie und antirassistischer Politiken. In: Kelly, Natasha A. (Hg.). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast Verlag. S.143–184
  • [7] Chebout, Lucy (2012): Back to the roots! Intersectionality und die Arbeiten von Kimberlé Crenshaw

Lesetipps

  1. "War das jetzt rassistisch? 22 Antirassismus-Tipps für den Alltag" (2022) von herausgegeben von Black Voices (Adjanie Kamucote: S. 40-49: "Seid ihr nicht auch rassistisch?", S. 128-135: "Müsst ihr so empfindlich reagieren? Ihr nehmt das viel zu ernst!" + Gastbeitrag)
  2. "Why we matter - Das Ende der Unterdrückung" (2021) von Emilia Roig
  3. "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" (2019) von Alice Hasters
  4. "Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus" (2018) von Noah Sow
  5. "Exit racism" (2017) von Tupoka Ogette
  6. "The Hate U Give" (2017) von Angie Thomas
  7. "Schwarzer Feminismus: Grundlagentexte" herausgegeben von Natasha A. Kelly

Weiterführende Informationen