LSBT*I*Q und Flucht – Gewalterfahrungen, Vulnerabilität und Asylverfahren in Deutschland

Portrait Katja Schröder

Zahlreiche Menschen flüchten aus ihren Herkunftsländern, da sie dort wegen ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentitäten verfolgt, geächtet, bedroht, kriminalisiert werden. Über Fluchtgründe, die besondere Situation von LSBT*I*Q -Menschen (lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intersexuell, queer) im Asylverfahren in Deutschland sowie Unterstützungsangebote, etwa durch den Verein rubicon e.V. in Köln, berichtet Katja Schröder, systemische Therapeutin, Menschenrechts­aktivistin und Bildungsreferentin. Sie arbeitet freiberuflich zu den Themen Antidiskriminierung, Vielfalt und soziale Gerechtigkeit.

Der folgende Artikel basiert auf einem Interview mit Katja Schröder, durchgeführt von Annemarie Schweighofer-Brauer (Institut für gesellschaftswissenschaftliche Forschung, Bildung und Information und AWO Kreisverband Wesel e.V.).

Autorin: Katja Schröder begann ihr Engagement für LSBT*I*Q Geflüchtete 2015 als Gründungsmitglied der Gruppe rainbow refugees Cologne Support Group2, von 2017- 2020 im Vorstand des 2017 gegründeten Vereins. Die ehrenamtlichen Unterstützer:innen begleiten geflüchtete Menschen zu Ämtern und Anhörungen, sammeln Spenden für Anwaltskosten, setzten sich erfolgreich für die Einrichtung einer kommunalen Unterkunft für LSBT*I*Q Geflüchtete in Köln ein, dokumentieren Gewaltfälle in Unterkünften und entwickelten ein Schulungskonzept für Mitarbeitende von Unterkünften für Geflüchtete. Die Dokumentation der Gewaltfälle sowie die Schulungstätigkeit werden seit Ende 2016 vom Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKFFI) finanziert. Katja Schröder war daraufhin 4 Jahre als Landesfachstelle für den Bereich Schulungen im Kontext Flucht im Verein rubicon e.V. in Köln tätig, dessen Arbeit mit LSB. T*I*Q Geflüchteten weiter unten beschrieben wird. Seit Anfang 2021 lebt sie in Bremen und schult und berät dort freiberuflich im Bereich Antidiskriminierung.

 Thema Oktober 2021

Woher kommen LSBT*I*Q Geflüchtete?

Ungefähr zwei Drittel aller Asylantragstellenden seit 2018 stammen aus Ländern, in denen einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen unter Erwachsenen unter Strafe stehen. Die meisten Geflüchteten in Deutschland kommen derzeit aus Syrien, dem Irak, Iran, aus Nigeria, der Türkei, aus Afghanistan, Eritrea, Somalia und der Russischen Föderation.

Queere Menschen flüchten genauso wie alle anderen Menschen vor Krieg, vor Hunger, vor Armut. Ihre Lage in den Herkunftsländern verschärft sich jedoch in Krisensituationen überdurchschnittlich, wie das generell bei diskriminierten Gruppen der Fall ist.

Daneben fliehen queere Menschen beispielsweise auch aus Ghana und dem Senegal, die in Deutschland als sogenannte sichere Herkunftsstaaten gelten, obwohl Homosexualität dort unter Strafe steht. Queere Menschen kommen aus Mazedonien, Georgien, aus der Ukraine, aus Tschetschenien und der Türkei, dort besteht eine hohe Diskrepanz zwischen der offiziellen Rechtslage und der gesellschaftlichen Situation bzw. dem politischen Klima.

Wieso fliehen LSBT*I*Q Menschen?

Menschen fliehen vor allem dann, wenn sich die individuelle oder die gesellschaftliche Lage ändert bzw. zuspitzt. In manchen Ländern ändert sich das gesellschaftliche Klima oder die politische Lage sukzessive, wie in der Türkei oder Polen, wo Rechte Stück für Stück zurückgenommen werden. In anderen Fällen lösen Einzelaktionen Fluchtbewegungen aus, wie etwa in Ägypten 2017 nach dem Konzert der libanesischen Band, Mashrou' Leila, deren libanesischer Frontsänger schwul ist[1]. Menschen im Publikum schwenkten Regenbogenflaggen. Danach erfolgte eine Verhaftungs- und Verfolgungswelle.

Menschen fliehen z.B. auch nachdem sie geoutet wurden, persönlich Gewalt erlebt haben oder Gewalt gegen andere LSBT*I*Q erleben, aber auch, wenn die erlebten Diskriminierungen oder Einschränkungen des Lebens in Summe zu schwer geworden sind.

Welche strukturellen, staatlichen sowie gesellschaftlichen und familiären Gewalttätigkeiten erleben LSBT*I*Q Menschen vor und während ihrer Flucht?

Die Menschen befinden sich während der Flucht in sehr prekären Situationen. Sie erleben häufig sexuelle Übergriffe oder finanzieren durch nicht gewünschte Sexarbeit ihre Flucht. Viele können schwerer Unterstützung bei anderen Fliehenden finden, weil sie Angst haben, entdeckt zu werden oder wenn sie äußerlich den Eindruck erwecken, "anders" zu sein.

In den Herkunftsländern beginnt die Gewalt damit, dass Homosexualität als Sünde, Schwäche, Schande gebrandmarkt und tabuisiert wird. In vielen Ländern existieren nur abwertende oder gar keine Begriffe dafür. Die betroffenen Menschen internalisieren diese Abwertungen, leben versteckt, verachten sich oft selbst. Insofern wirkt das Gewaltsystem bereits, auch ohne dass unmittelbare Gewalt ausgeübt wird. Menschen ringen mit sich selbst, zwischen dem eigenen so Sein und den gesellschaftlich gelernten Bildern.

Die Liste von Ländern mit staatlicher Gewalt ändert sich von Jahr zu Jahr. Im Moment wird gleichgeschlechtliche Sexualität in fast 70 Länder kriminalisiert. Die Strafen reichen von Geldbußen, Haft, körperlichen Züchtigungen bis hin zur Todesstrafe. Letztere ist derzeit in elf Ländern rechtlich installiert.

Männer und Frauen werden in vielen Ländern unterschiedlich bestraft. Männer werden in manchen Ländern untereinander unterschiedlich schwer bestraft, je nachdem, welche "Rolle" sie während des Geschlechtsverkehrs einnehmen. Die "dominante" Person bekommt Peitschenhiebe, wenn sie ein erstes Mal verurteilt wird und kann bei Wiederholung mit dem Tod bestraft werden. Die sogenannte passive Person wird auf alle Fälle mit dem Tod bestraft.

Dem liegt ein Bild zugrunde, dass Dominanz/Aktiv-Sein mit Männlichkeit assoziiert wird – weil er nimmt, weil er aktiv ist, gilt er als männlicher. Passivität hingegen, genommen zu werden, wird mit Weiblichkeit verbunden. Die passive Person wird als "weiblicher" etikettiert, gilt damit als weniger wert und wird härter bestraft.

Auch in Ländern, in denen scheinbar geringere Strafen verhängt werden, leiden Betroffene unter der permanenten Angst, entdeckt und bestraft oder Opfer von Machtmissbrauch zu werden. Menschen können erpresst werden unter der Androhung, sie bei der Polizei zu verraten. In Ländern, in denen geringere Strafen erfolgen und auch in solchen ohne Kriminalisierung, aber mit feindlichem gesellschaftlichem Klima, erhalten LSBT*I*Q Menschen keinen/kaum Schutz staatlicherseits.

Häufig ist auch die medizinische Versorgung nicht gegeben. In manchen Ländern werden schwulen Männern sehr demütigende anale Zwangsuntersuchungen aufgezwungen, um ihre sexuelle Orientierung medizinisch "nachzuweisen". In einigen Staaten sind Transpersonen Zwangssterilisationen ausgesetzt.
Menschen erleben soziale Ausgrenzung, Ausgrenzung durch ihre Familie, Freunde oder auch den Verlust des Arbeitsplatzes. Zwangsoutings werden beispielsweise in Uganda auch über die Presse vorgenommen.

Titelblatt im Rolling Stone - Outing Uganda

LSBT*I*Q Personen erleiden sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen; auch Vergewaltigungen im familiären Kontext, sogenannte corrective rapes, um sie zur Heterosexualität zu zwingen. Verbreitet ist die Zwangsverheiratung, ebenso für Männer wie für Frauen, um beispielsweise aufkommenden Gerüchten entgegenzuwirken oder den heteronormativen Erwartungen von Familie und Gesellschaft zu entsprechen. Familien üben je nachdem psychischen Druck aus oder verwenden körperliche Gewalt, auch durch Mütter, die ihre potentiell schwulen Söhne bestrafen und zwingen. Die Gewalttätigkeiten reichen bis hin zu Ehrenmorden.

Nach der gemeinsamen Flucht einer Familie nach Deutschland, wenn ein Familienmitglied lesbisch, schwul oder trans* ist, ergeben sich wiederum Schwierigkeiten im Asylverfahren. Die gemeinsame Befragung von Familien soll eigentlich ein Schutz sein, ist in dieser Hinsicht aber ein Nachteil, da die betroffene Person ihren eigenen Asylgrund vor der Familie nicht angeben kann. In einer vernetzten Welt kann die Verfolgung auch nach der Flucht aus dem Herkunftsland weitergehen, das erleben wir in der Unterstützungsarbeit recht häufig.

Was bedeutet Vulnerabilität aus der Perspektive der Betroffenen und im Kontext des Asylverfahrens in Deutschland?

Die Betroffenen kommen aus einer Welt, in der ein maßgeblicher Teil ihrer Identität kriminalisiert oder geächtet wird – mit der Erfahrung, dass sie offiziellen Stellen nicht trauen können. In Deutschland angekommen, werden sie in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, in denen überwiegend Menschen aus einem Herkunftsland in ein Zimmer kommen, aus der Sicht von LSBT*I*Q Geflüchteten tendenziell das worst case Szenario. Sie haben Angst, dass sie sich weiter verstecken müssen, dass sie noch immer nicht in Sicherheit sind, dass die Gewalt von vorne losgeht.

Einer Befragung von Geflüchteten in den Unterbringungseinrichtungen nach hat die Hälfte kein Problem mit Homosexualität, die andere Hälfte schon, ein Drittel davon ist als massiv homo- und transfeindlich einzuschätzen.

LSBT*I*Q Personen können erst einmal nicht wissen, wem sie vertrauen können, wer ihnen feindlich oder wohlgesonnen ist. Sie können also entweder als Vorerwartung oder real genau den Menschen ausgeliefert sein, vor denen sie geflohen sind.

Aus der Sicht des Staates gibt es den Begriff der Vulnerabilität oder des besonderen Schutzbedarfes. Dieser ist in der EU-Aufnahme-Richtlinie von 2013 festgehalten und definiert Personengruppen, für die es besondere Maßnahmen braucht, damit sie ihre Rechte in Anspruch nehmen und auch ihre Pflichten erfüllen können. Unter diese Gruppe zählen beispielsweise auch allein reisende Frauen, Menschen mit Behinderung, Opfer von Menschenhandel, Opfer von Genitalverstümmelung und LSBT*I*Q Personen.

In einigen Bundesländern gibt es Landeseinrichtungen für vulnerable Geflüchtete. Außerdem soll in allen Unterbringungseinrichtungen ein Haus oder ein Flur für vulnerable Geflüchtete vorgehalten werden. Diese Vorgaben sind nicht überall umsetzbar bzw. werden nicht überall umgesetzt. In verschiedenen Bundesländern bestehen in unterschiedlichem Umfang Gewaltschutzkonzepte oder -verordnungen, die teils nicht umfassend implementiert sind.

Das Hauptproblem beim Schutzbedarf von LSBT*I*Q Geflüchteten im Vergleich zu anderen vulnerablen Gruppen ist die Identifizierung des Schutzbedarfes. Der Schutzbedarf einiger Gruppen ist evident, von Kindern zum Beispiel. Bei LSBT*I*Q Personen ist die Voraussetzung für das Erkennen eines Schutzbedarfes ein Outing seitens der LSBT*I*Q-Personen. Das werden die meisten LSBT*I*Q Geflüchteten, wenn sie nicht ausreichend Informationen bekommen und die Einrichtungen und Mitarbeitenden nicht sichtbar für die Belange und Rechte von LSBT*I*Q eintreten, vermeiden, so gut und solange es geht.

Die Sozialdienstmitarbeitenden, die Asylverfahrensberatung sowieso die Mitarbeiter:innen vom BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) werden als Vertreter:innen von staatlicher Organisation wahrgenommen. Die Schulung und Sensibilisierung all dieser Beteiligten, auch von Security, medizinischem Dienst und der Bezirksregierung ist daher zwingend notwendig. Wenn diese Maßnahmen ergriffen und LSBT*I*Q Geflüchtete gut informiert sind, ist die Chance größer, dass es Menschen ermöglicht wird, sich zu zeigen. Erst dann kann umgesetzt werden, was in den Richtlinien zum Schutz der Betroffenen vorgesehen ist.

Wie wird die Schutzunterbringung von LSBT*I*Q Personen geregelt?

Die Schutzunterbringung wird sehr unterschiedlich geregelt. Im besten Falle werden die Menschen gefragt, was sie wünschen, das geschieht allerdings nicht immer. Manche Menschen wünschen sich nichts sehnlicher, als in eine Schutzeinrichtung zu kommen, gleich wie abgelegen sie liegt. Die meisten Betroffenen wollen aber unbedingt in großen Städten untergebracht werden, da sie diese als zumeist liberaler kennen und diese insbesondere die Anbindung an eine Community und spezifische Beratungsstrukturen ermöglichen.

In Köln gibt es die Beratungsstelle rubicon e.V., den ehrenamtlichen Verein rainbow refugees Cologne Support group und das von Geflüchteten selbst organisierte Projekt Sofra Cologne 1 und auch den Sitz von Queer Refugees Deutschland[2] vom LSVD (Lesben- und Schwulenverband Deutschland). Medizinische Versorgung für Transpersonen ist ebenfalls in großen Städten eher gegeben. LSBT*I*Q Geflüchtete entscheiden sich im Zweifelsfall oft dafür, in einer für sie unsicheren Unterkunft zu leben, weil es außerhalb Orte gibt, an denen sie sich sicher und aufgehoben fühlen, sie nicht allein sind und vielleicht ein kleines Stück der langersehnten Freiheit leben können.

Ein großartiges Beispiel dafür ist "Sofra Cologne", ein Ort der Begegnung mit monatlich stattfindenden Treffen, der sich zunächst rund um das gemeinsame Essen gestaltet. Sofra bedeutet auf Arabisch "Esstisch". Genügend, ausreichend und verträgliches Essen zu bekommen, ist für geflüchtete Menschen in den Unterkünften ein großes Thema. Neben Kulturveranstaltungen gibt es Aufklärung und Informationen, Workshops und Beratungsangebote. Projekte wie Sofra Cologne gibt es nicht auf dem Land, tatsächlich kommen Geflüchtete aus ganz NRW und auch darüber hinaus, um diesen für sie so kostbaren Ort zu besuchen.

Welche Besonderheiten gelten für LSBT*I*Q Personen für die Anhörung beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge[3])?

Es ist auf Antrag aber ohne Angabe von weiteren Gründen möglich, speziell geschulte Sonderbeauftragte als Anhörer:innen zu erhalten,. Viele Menschen entscheiden sich, von einer Frau interviewt und von einer Frau sprachgemittelt zu werden. Dies ist zwar eine Kann-Bestimmung, ebenso wie die Möglichkeit, das Geschlecht der Sprachmittlung zu bestimmen, in der Regel wird solchen Anträgen von LSBT*I*Q Personen aber nachgekommen. Manchmal verzögert es den Termin zur Anhörung.

Der zentrale Teil im Asylverfahren ist die Anhörung. In der Anhörung wird geprüft, ob die Person entsprechend der Rechtslage in Deutschland einen Schutzstatus erhält und wenn ja welchen. Im Asylverfahren muss die individuelle Verfolgung dargelegt und die eigene sexuelle Orientierung glaubhaft gemacht werden.

Eine sexuelle Orientierung oder eine von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Geschlechtsidentität berührt sehr intime Aspekte einer Person und ist tendenziell tabuisiert. Die meisten LSBT*I*Q Personen oder queeren Personen kommen aus Ländern, in denen sie mit niemandem oder nur mit einer extrem kleinen Auswahl von Personen reden konnten. Das Verschweigen-Müssen ist eine manchmal lebenslange Erfahrung. Zusätzlich existieren in manchen Ländern kaum oder nur abwertende Begriffe für Homosexualität.

Zur Anhörung kommen Aktivist:innen, die sprechfähig sind, weil sie sich bereits lange mit allem auseinandergesetzt haben und politisch aktiv waren. Es kommen aber auch Menschen, die noch nie über ihre LSBT*I*Q Identität geredet und keine Worte dafür haben. Sie stehen nun vor der Situation, einem:r fremden Staatsvertreter:in, eventuell noch mit einer Sprachmittlung aus dem Herkunftsland, zu erzählen, was sie noch niemals gewagt haben. Daher ist es so wichtig, dass LSBT*I*Q Personen an lsbtiq-sensible Strukturen angebunden werden, wo sie auf das Asylverfahren vorbereitet werden.

In der Anhörung geht es weniger um die Rechtslage im Herkunftsland, sondern vielmehr um die individuelle Verfolgungsgeschichte und die Glaubwürdigkeit. Die Verfolgungsgeschichte muss glaubwürdig, widerspruchsfrei, lückenlos und detailliert geschildert werden. Widerspruchsfrei zu erzählen, ist ganz oft nicht möglich, weil Menschen ein widerspruchsvolles Leben geführt haben, z.B. sich gezwungen haben oder gezwungen wurden, heterosexuell zu leben. Ein von Ambivalenzen getragener Comingout-Prozess kann vor und zurück gehen und auch stecken bleiben.

Die Anhörung ist für die Anhörenden ebenfalls eine herausfordernde Situation. Deren Aufgabe besteht darin, sehr genau zu überprüfen, ob eine Geschichte glaubwürdig ist und ob die Verfolgungsdichte ausreicht, um einen Schutz zu gewähren. Sie sind angehalten, sehr genau nachzufragen und Widersprüche aufzudecken.

Es scheint eine Liste von Fragen zu geben, die beim Thema LSBT*I*Q abgefragt wird. Diese Liste beinhaltet Fragen, die für Menschen, denen es schwerfällt, über ihre eigene Sexualität zu sprechen, sehr intim und herausfordernd sind und ein hohes Maß an Selbstreflexion und Sprechfähigkeit voraussetzen. Beispielsweise

  • "Seit wann wissen Sie dass sie ... sind?
  • Wie haben Sie die erste Person, mit der Sie geschlafen haben, kennengelernt?
  • Wie ist der Kontakt zustande gekommen?
  • Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
  • Wie sind Sie danach damit umgegangen? ..."

Menschen mit hohem Bildungsgrad und Kenntnis über die die westlichen Konzepte zu LSBT*I*Q, haben erfahrungsgemäß bessere Chancen im Asylverfahren. In Deutschland existiert ein bestimmtes Konzept von geschlechtlicher Orientierung und geschlechtlicher Identität: Sexuelle Orientierung ist demnach nicht wandelbar und deshalb brauchen die Menschen bestimmte Rechte.

In anderen Ländern folgen Menschen anderen Konzepten. Sexuelle Orientierung kann als Verhalten betrachtet werden, nicht als eine Identität. Wenn anhörende Personen nur aus dem Blickwinkel der eigenen Konzepte fragen, haben Menschen mit anderen Konzepten, ohne Information und Unterstützung durch eine Beratungsstelle, keine Möglichkeit, sich zu erklären.

Die Anhörungsfragen, mit denen die Glaubwürdigkeit der sexuellen Orientierung überprüft wird, lauten beispielsweise:

  • Wie sieht Ihr Leben hier in Deutschland aus?
  • Gibt es Kontakt zu einer LSBTI Beratungsstelle?
  • Waren Sie schon in der Community unterwegs?
  • Welche Datingapps gibt es?

Solche Fragen können nicht alle betroffenen Geflüchteten beantworten. Nicht wenige LSBT*I*Q Geflüchtete verschweigen daher ihren Grund in der ersten Anhörung.

Wenn Menschen aus vulnerablen Gruppen in ihrem ersten Asylverfahren den Asylgrund nicht genannt haben, gibt es deshalb die Möglichkeit, einen Folgeantrag zu stellen. Der deutsche Staat hat verstanden, dass die Schamgrenze und die Angst im Asylverfahren zunächst zu hoch sein können. Der Folgeantrag muss innerhalb von drei Monaten, nachdem die Person ihren tatsächlichen Fluchtgrund bekannt gemacht hat, gestellt werden.

Wie ist bei rubicon e.V. ein sicherer Ort für geflüchtete LSBT*I*Q Menschen entstanden und wie unterstützt rubicon die Menschen?

In allen Ländern existieren sichere Orte, an denen sich LSBT*I*Q Menschen treffen, kleinere oder größere, mehr oder weniger gefährdete. Das rubicon bekommt als erklärte LSBT-Beratungsstelle die Zuschreibung, ein sicherer Ort für LSBT*I*Q Menschen zu sein und kann im Internet gefunden werden. Menschen können zunächst nicht wissen, ob und welche anderen Einrichtungen auch LSBT*I*Q sensibel arbeiten und wenden sich daher eher an Institutionen wie rubicon.

Sichere Orte bestehen aber nie von vornherein, sie entwickeln sich, indem Menschen dafür kämpfen und einfordern, dass sie und ihre Bedarfe wahrgenommen werden. Rubicon entstand zunächst als sicherer Ort für schwule Männer.

Lesbische Frauen kämpften um Sichtbarkeit, gingen in die Auseinandersetzung mit den schwulen Männern und veränderten mit ihnen diesen Ort so, dass er auch für sie Raum bot. Dasselbe passierte und passiert in letzter Zeit zunehmend beim Thema Trans*, indem Trans*-Menschen um Sichtbarkeit, Anerkennung und Gleichberechtigung kämpfen. Diese Prozesse gelten für Institutionen, gesellschaftlich und politisch.

Sichere Orte oder Gerechtigkeit entstehen nicht über politische Entscheidungen, sondern diese stehen eher am Ende eines Prozesses. Sie werden von Betroffenen geschaffen, erkämpft und aufrechterhalten.

Bei rubicon gibt es mehrere Arbeitsbereiche, die sich an LSBT*I*Q Menschen mit Fluchtgeschichte richten. 2005 wurde als erstes Angebot "Baraka"[4] (auf Arabisch "Segenswünsche") gegründet, ein allfreitäglicher Treff für Menschen mit internationaler Geschichte.

Zu Baraka kommen die Menschen mit ihren Anliegen, Sorgen und Wünschen, sie kochen gemeinsam, machen Ausflüge, Tanzabende, Kinoabende und entwickeln Kulturprojekte wie die 2021 veröffentlichte Ausstellung "pain pride pose"[5].

Wie bereits gesagt, ist das Projekt "report violence" im rubicon angesiedelt, das (ja auch zunächst ehrenamtlich) Diskriminierungen und Gewalt an LSBT*I*Q Geflüchteten dokumentiert und es ist die Landesfachstelle Schulungen im Kontext LSBT*I*Q und Flucht dort[6] angesiedelt. Die Schulungen richten sich an alle Institutionen, die mit Geflüchteten arbeiten, auch an Beratungsstellen, Sprachmittlungen und Verwaltungen. In diesem Rahmen ist auch vielfältiges Info-Material entstanden wie z.B. der Erklär-Film "Endlich sicher:"[7]

Zeichnung einer Menschenansammlung die sich für LSBT*I*Q einsetzt.
Film "Endlich sicher?!"

In einem Kooperationsprojekt mit Rosa Strippe Bochum und gerne anders werden nach wie vor NRW-weit Unterkünfte für die Thematik sensibilisiert.

Rainbow refugees und rubicon sind mit den Erkenntnissen aus dieser Arbeit an die Stadt Köln herangetreten, um die Notwendigkeit spezieller Unterkünfte zu verdeutlichen. Nach einiger Überzeugungsarbeit gibt es seit 2017 dezentrale Unterkünfte für LSBT*I*Q-Geflüchtete. In diesem wie in anderen Zusammenhängen bündeln engagierte Organisationen ihre Ressourcen, um solche Projekte zu stemmen. Das Wohnprojekt des Amtes für Wohnungswesen der Stadt Köln wird in Kooperation zwischen Aidshilfe Köln e.V. und rubicon e.V. betreut.

Geflüchtete, die etwa zunächst zu Sofra Cologne oder Baraka kommen, brauchen Unterstützung in vielen unterschiedlichen Belangen, z.B. bei der Beschaffung von Kleidung, Anfechtung übervorteilender Handyverträge, beim Zugang zur Krankenkasse, zu Informationen zum Asylverfahren, zur Vorbereitung auf die Anhörung, zu Fragen der eigenen Identität, der gesundheitlichen Versorgung, therapeutischen Begleitung von Folteropfern, etc. Bei Themen, zu denen rubicon keine Beratungskompetenz hat, wird an entsprechende Beratungsstellen weiterverwiesen. Indem rubicon andere LSBT*I*Q-sensible Beratungsstellen empfiehlt, gewinnen Menschen auch zu diesen Stellen Vertrauen.

Die psychosoziale Beratung bei rubicon steht allen Geflüchteten zur Verfügung und ist beispielsweise beim Thema Trans*identität sehr wertvoll und drängend, da die Menschen Informationen dazu erhalten, in welchem Stadium des Asylverfahrens ein Anrecht auf weitere Behandlungen besteht und welche Vorgehensweisen besonders empfehlenswert sind. Rubicon betreibt zudem neu seit 2021 speziell eine Stelle zur psychosozialen Beratung von geflüchteten LSBT*I*Q Menschen in Zusammenarbeit mit dem Caritas Therapiezentrum für Folteropfer.

Letztlich ist auch ein Aspekt von großer Bedeutung zur Unterstützung und dem Empowerment von LSBT*I*Q-Geflüchteten, nämlich, dass immer mehr Menschen im rubicon arbeiten, die selbst eine internationale Geschichte haben, Migration oder Flucht selbst erlebt haben, die zudem Rassismuserfahrung haben.
Diese Veränderungen verändern auch diejenigen, die diese Erfahrungen nicht haben, sie fordern Auseinandersetzungsbereitschaft, Selbstreflexion, die auch weh tun kann, z.B. wenn es darum geht, sich der eigenen rassistischen Anteile bewusst zu werden.

Es gibt so Vieles, was wir nicht wissen – immer und überall

Gerade im Bereich SOGISEC1 und Flucht ist es aufgrund der großen lebendigen Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Lebensgeschichten, Lebensformen und -entwürfen, Tabus, Ängsten, Gewalterfahrungen, Stärken, unterschiedlichen Wünschen und Zielen notwendig, sich darüber klar zu sein, dass wir vieles nicht wissen und dass wir vor allem nicht wissen, wann wir nicht wissen. Sich auf das Nichtwissen einzulassen ist meines Erachtens der wichtigste Schritt, um die Menschen mit all dem, was sie sind, kennenzulernen, und ihre Bedarfe angemessen erkennen und unterstützen zu können.

Ein zweiter Schritt ist die Anerkennung von Gleichzeitigkeiten. Ein schwuler Mann kann in einer Schwulenbar arbeiten und sich dort als heterosexuell ausgeben, weil er es nicht wagt, sich zu outen, aber die Nähe zur Community sucht

Eine international bekannte lesbische Aktivistin kann im Elternhaus ungeoutet sein, Menschen können sich nach Freiheit sehnen und sich vor ihr fürchten. Gerade die komplexen Prozesse von LSBT*I*Q-Menschen, die diskriminiert, kriminalisiert und verfolgt wurden oder werden, sind voller Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten.

Dies anzuerkennen, verhindert simplifizierendes und potentiell paternalistisches Verhalten und ermöglicht, dass die Menschen auf ihre Weise und in ihrer eigenen Zeit für sich handeln können und als Expert:innen für sich selbst am ehesten die Wege finden, die ihnen entsprechen.

Vollständiges, transkribiertes Interview (PDF)

Strukturkategorien – Kategorie Gender

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Referenzen

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