Die Vielfaltsbegleitung: Ein Konzept zur Inklusionsberatung und -begleitung von Einrichtungen der sozialen Wirtschaft

Portrait Annemarie Schweighofer-Brauer

In diesem Beitrag wird "die Vielfaltsbegleitung" im Rahmen der Inklusion erläutert. "Inklusion" ist ein gebräuchlicher Begriff und wird im Alltagsverständnis mit der Integration von Kindern mit Behinderung in die Regelschulen verbunden.

Was bedeutet Inklusion aber in ihrer ganzen Bandbreite? Und vor allen: Wie gestalte ich den Alltag, die Einrichtung, die Arbeitspraxis und mich selbst inklusiv? Umsetzungsmöglichkeiten für Unternehmen der sozialen Wirtschaft wurden im dreijährigen Projekt "Erfolgsfaktor Inklusion" beim AWO Kreisverband Wesel e.V. entwickelt. Insbesondere die "Vielfaltsbegleitung" ist als innovatives Konzept aus dem Projekt hervorgegangen.

Autorin: Dr.in Annemarie Schweighofer-Brauer, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft; Mitarbeiterin des AWO Kreisverbandes Wesel (DE) und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für gesellschaftswissenschaftliche Forschung, Bildung und Information (FBI-Österreich)

Thema März 2019

Das Projekt Erfolgsfaktor Inklusion

Das Projekt Erfolgsfaktor Inklusion (kurz EFI) beim AWO Kreisverband Wesel e.V. begann im Februar 2017 und endete jetzt im Januar 2019. Es wurde im ESF Förderprogramm rückenwind+, mit dem die Spitzenverbände der sozialen Wirtschaft in Deutschland auf den akuten Fachkräftemangel in sozialen Berufen reagieren, gefördert.

AWO ist die Abkürzung für den Arbeiterwohlfahrtsverband, einer der großen deutschlandweit tätigen Verbände, die soziale Dienstleistungen anbieten. 2019 feiert der Verband seinen 100. Geburtstag.

Der AWO Kreisverband Wesel e.V. betreibt über 100 Einrichtungen und beschäftigt über 1000 Mitarbeitende. Die Einrichtungen umfassen: Altenhilfe, Kindertagesstätten, Schulsozialarbeit und Jugendzentren, Schulung und Rehabilitation für den Arbeitsmarkt, Beratung und Unterstützung für Frauen, Familien, Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung. In all diesen Zusammenhängen sind Familien involviert und somit Zielgruppen des sozialen Engagements.

Anliegen und Ziele von Inklusion

Inklusion in der sozialen Arbeit in den verschiedenen Bereichen umzusetzen, erfordert ein klares Bekenntnis des jeweiligen Trägers mit entsprechendem Qualitätsmanagement und eine inklusive Haltung und Orientierung der Mitarbeitenden.

Inklusion wirkt gewaltpräventiv, da sie darauf ausgerichtet ist, alle Menschen in ihrer Besonderheit und Vielfalt in Angebote, Abläufe und Entwicklungsprozesse einzubeziehen und deren Vielfalt dabei als Potential zu nutzen. Die Strukturen und Systeme passen sich an die Menschen und ihre Bedürfnisse an. Damit wird der Entstehung gewalttätiger Muster zur dysfunktionalen Bewältigung von Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen der Boden entzogen.

In der Dortmunder Erklärung des AWO Bundesverband: "Inklusion auch bei uns!" bekundet AWO, Inklusion als wesentliche Grundlage und Arbeitshaltung umzusetzen: "Inklusion verstehen und gestalten wir als ein dynamisches Geschehen zwischen Menschen, Einrichtungen und Diensten."

In diesem Sinne bzw. gemäß dieser Grundhaltung förderte das Projekt EFI Inklusion durch Mitarbeiter*innenschulungen und Ansätze zur strukturellen Verankerung beim AWO Kreisverband Wesel e.V..

Der Begriff Inklusion, der zunächst für das Einbeziehen von Kindern mit Behinderung in Regelschulen entwickelt wurde, bezieht sich inzwischen auf alle Besonderheiten, auf die ganze Spannbreite der Vielfalt von Menschen (Gender, sexuelle Orientierung, Herkunft, Zugehörigkeiten, psychische und physische Besonderheit, Alter ...). Merkmale in diesen Zusammenhängen verbinden sich oft mit stereotypen Zuschreibungen und werden zur Legitimation von Diskriminierungen verwendet.

Profil und Kompetenzen der Vielfaltsbegleitung

Ein interessantes Produkt bzw. eine vielversprechende Entwicklung aus dem Projekt EFI wird im Folgenden kurz dargestellt: Die Vielfaltsbegleitung.

Im Projekt EFI wurden 19 Mitarbeiter*innen des AWO Kreisverbandes Wesel zu Vielfaltsbegleiter*innen ausgebildet und begründen eine Vernetzung zur Förderung von Inklusion innerhalb des Kreisverbandes. Sie beraten AWO Einrichtungen (z.B. Altenheime, Kindergärten, Beratungsstellen) bei der Bewältigung inklusiver Herausforderungen im Team oder mit den Klient*innen. Sie begleiten Einrichtungen bei inklusionsbezogener Selbstreflexion, Neudefinition, Strukturierung.

Profil und Kompetenzen der Vielfaltsbegleitenden

Die Vielfaltsbegleitung ist eine Fachberatung zu Inklusion.

  • Vielfaltsbegleiter*innen verkörpern eine inklusionsbewusste und –fördernde Haltung. Sie verfügen über die Kompetenz zur inklusionsbezogenen Selbstreflexion und Anleitung anderer.
  • Vielfaltsbegleiter*innen verfügen über konzeptionelles Wissen, kritisches Bewusstsein und Analysewerkzeuge bezüglich der Thematiken Armut, soziale Ausgrenzung, Geschlecht, LGBTI*, Migration, Flucht, Behinderung, Lebensalter – bzw. sie sind bezüglich bestimmter Vielfaltsdimensionen (und Diskriminierungszusammenhänge) spezialisiert. Grundlagen des Wissens, Bewusstseins und der Analysewerkzeuge zu Vielfaltsdimensionen werden in der entsprechenden Ausbildung vermittelt und trainiert.
  • Vielfaltsbegleiter*innen kennen internationale und nationale rechtliche Grundlagen für die Inklusion sowie die Dortmunder Erklärung zu Inklusion des AWO Bundesverbandes.
  • Vielfaltsbegleiter*innen sind zur flexiblen Anwendung von Methoden, Übungen und Beratungstools in der prozessorientierten Begleitung von Einrichtungen der sozialen Wirtschaft qualifiziert.
  • Vielfaltsbegleiter*innen sind in die Verwendung des Materialienkoffers zur Unterstützung ihrer Beratungs- und Begleitungstätigkeit eingeführt.

Die Ausbildung zur Vielfaltsbegleitung

Der Ausbildungsgang zur Vielfaltsbegleitung erstreckt sich über vier Module zu je zwei Tagen und einen Abschlusstag. Diese werden innerhalb eines Zeitraums von etwa sechs bis sieben Monaten durchgeführt.

Das Schulungskonzept orientiert sich daran, die inklusive Herangehensweise und Haltung unmittelbar erfahrbar zu machen. Daraus entsteht ein ganzheitlicher Lernprozess, der die Teilnehmenden kognitiv, emotional, körperlich und über ihre verschiedenen Sinneskanäle anspricht.

Der genaue Ablauf der Schulungen orientiert sich an den Lernprozessen, an den Energien und Bedürfnissen der Teilnehmenden. Die Leitung hat die Aufgabe, die Potentiale und Anliegen der Teilnehmenden mit dem Thema Inklusion und Vielfaltsbegleitung zu verknüpfen.

In den Schulungen hat sich die folgende Herangehensweise für das prozessorientierte und themenbezogene Arbeiten bewährt:

  • Ausgangspunkt ist die unmittelbare Erfahrung der Teilnehmenden zum Thema durch entsprechende Übungen (z.B. zur Selbstreflexion bezüglich Privilegierungs-/Diskriminierungserfahrung, zur Wahrnehmungsschulung). Das Thema wird dadurch bei den Einzelnen und als Gruppe aktualisiert – es wird spürbar, fühlbar und denkbar.
  • Diese Erfahrung wird dann reflektiert:
    • Wie ist es dir gegangen?
    • Was ist dir aufgefallen?
  • Und mit dem Thema verknüpft:
    • Was hat diese Übung mit Inklusion zu tun?
    • Was hat deine Erfahrung dabei mit Inklusion zu tun?
  • Dabei kommen die vielfältigen Zugänge, Potentiale der Teilnehmenden zur Geltung, deren fachliche Expertise und persönliche Erfahrung. Unterschiedliche Ansätze, das Wissen, die Ideen, die Kenntnisse der Teilnehmenden liegen sozusagen bereit, um das Thema in Bewegung zu bringen.
  • Die Erkenntnisse, die sich dabei ergeben, werden mit vorbereiteten Inputs in Bezug gebracht. Die Aufgabe der Leitung ist es, die Erkenntnisse festzuhalten, zu verknüpfen und mit dem roten Faden zu verbinden.

Die Vielfalt und Besonderheit der Teilnehmenden wird wahrgenommen, eingeladen, sich zu äußern (die Lebenserfahrungen, Prägungen, Anliegen, Wünsche, Arbeitsansätze, Spezifika) und in den thematischen Zopf eingeflochten, für das Thema fruchtbar gemacht. Diese Lernerfahrung bildet ein Modell für den Umgang mit Vielfalt in der Praxis der Einrichtungen.

In den Schulungen werden die inklusionsorientierte Selbstreflexion und die Wahrnehmung von Vielfalt geübt. Es wird an Möglichkeiten gearbeitet, die Wahrnehmung inklusiv zu erweitern.

Weiter geht es um den Bezug von Inklusion zum eigenen professionellen Handlungsfeld und um Transferansätze.

Im Folgenden werden Aufbau und wesentliche Inhalte der Vielfaltsbegleitungsausbildung kurz dargestellt, als Ergebnis der Auswertung der beiden durchgeführten Ausbildungsdurchgänge:

Modul 1: "Inklusion leben beim AWO Kreisverband Wesel e.V."

Im ersten Modul geht es um Grundlagen der Vielfaltsbegleitung und Inklusion. Diese Inhalte wurden auch in der zweitätigen Schulung "Inklusion leben" vermittelt, die während der Projektlaufzeit 14 mal angeboten und von zahlreichen Mitarbeitenden besucht wurde. Inklusive Selbstreflexion und Wahrnehmung, nationale und internationale Übereinkünfte zu Inklusion, Armut bzw. soziale Diskriminierung als Kernthema von AWO bilden die wesentlichen Inhalte.

Modul 2: Kollegiale Beratung

In diesem Modul geht es um methodische Herangehensweisen zur inklusiven Begleitung und Beratung.

Module 3 und 4: Vielfaltsdimensionen

Diese Module behandeln insbesondere die Diskriminierungsdimensionen Behinderung, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Migration, Flucht; sie befassen sich mit inklusionsorientierten Konzepten in diesem Zusammenhang.

Abschlusstag

Die Vielfaltsbegleitenden entwickeln Beratungsprozesse anhand eigener Beispiele und unter Verwendung des Materialkoffers (siehe unten).

Die Teilnehmenden an den beiden Ausbildungsgängen und auch an der zweitägigen Schulung "Inklusion leben" nahmen die Schulungen gerne wahr, um ihre inklusive Haltung weiter zu entwickeln. Auch wenn das Bewusstsein vorhanden ist, beurteilten sie die Schulungen als sinnvolles Angebot, um dazu zu lernen. Denn inklusives Denken und Handeln verlangt beständige Reflexion und Erweiterung.

Als sehr hilfreich bewerteten sie, in den Schulungen mit Mitarbeiter*innen aus anderen sozialen Arbeitsfeldern als dem eigenen in Kontakt und Austausch zu kommen. Dieser Austausch erweiterte ihren Horizont bezüglich inklusiver Fragestellungen, Problematiken und Lösungsansätze.

Ergänzend zum Ausbildungsgang zur Vielfaltsbegleitung wurden den Teilnehmenden Workshops angeboten, zu denen spezielles Interesse bestand bzw. entstand (Transkulturelle Biografiearbeit, diversitätssensible Sprache).

Der Materialkoffer zur Vielfaltsbegleitung

Für eine abwechslungsreiche Gestaltung von Vielfaltsbegleitungen und –beratungen in den Einrichtungen wurde im Projekt der sogenannten Materialkoffer entwickelt:

  • Jede*r Vielfaltsbegleitende verfügt über einen eignen kleinen Koffer mit einer Moderationsgrundausstattung und einem Inklusionsindex.
  • Weiter gehört dazu ein Ordner mit dem Handbuch "Inklusion leben(dig)", in dem die Ergebnisse des Projekts und der Schulungen für die Vielfaltsbegleitung praktisch aufbereitet sind.
  • Ein großer Materialkoffer befindet sich im Fortbildungs- und Beratungszentrum des AWO Kreisverbandes Wesel e.V.. Die Vielfaltsbegleitenden können daraus für spezifische Beratungen Spiele, Indices, Literatur zu Inklusion und Methoden, Themenkarten u.ä. ausleihen.
  • Ein erweiterter Ordner mit vielen Unterlagen ergänzt diesen großen Materialkoffer.

Blick in die Zukunft

Die ausgebildeten Vielfaltsbegleiter*innen werden die inklusive Öffnung des AWO Kreisverbands Wesel als Netzwerk für Inklusion und Vielfalt begleiten und weiterentwickeln, neue Inhalte und Diskussionen aufgreifen und einbringen, Herausforderungen des inklusiven Lebens annehmen und an Lösungen dafür arbeiten.

Das Konzept der Vielfaltsbegleitung steht auch zum Transfer außerhalb des Arbeiterwohlfahrtsverbandes zur Verfügung.

Die Kontaktemail ist: efi@awo-kv-wesel.de.

Literatur

  • [1] AWO Bundesverband e.V.: Die Dortmunder Erklärung: Inklusion - Auch bei uns! Berlin, 2013
  • [2] AWO Bundesverband e.V. : Inklusion als Leitidee der Organisationsentwicklung. Handbuch zur Planung, Gestaltung und Umsetzung inklusiver Veränderungsprozesse Berlin, 2016
  • [3] Booth, Tony/Ainscow, Mel: Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung Beltz, 2017
  • [4] Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: Index für Inklusion in Kindertageseinrichtungen. Gemeinsam leben, spielen und lernen Frankfurt a.M., 2017
  • [5] Groschwald, Anne/Rosenkötter, Henning: Inklusion in Krippe und Kita. Ein Leitfaden für die Praxis Herder: Freiburg i.B., 2015
  • [6] Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V.: Personalkompass Inklusion. Ein Leitfaden zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung Köln, 2015
  • [7] Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft: Inklusion vor Ort. Der Kommunale Index für Inklusion - ein Praxishandbuch

Weiterführende Informationen