Opferschutzorientierte Täterarbeit: Ausblick

Portraits Christian Scambor und Alexander Haydn

Der Begriff "Opferschutzorientierte Täterarbeit" tritt seit einigen Jahren verstärkt in Fachdiskussionen und Veröffentlichungen auf. Aber was genau ist damit gemeint, und woher kommt dieser Begriff? In den  beiden Beiträgen von Christian Scambor & Alexander Haydn, werden Entwicklungen, Hintergründe und einige offenen Fragen umrissen, die mit "Opferschutzorientierter Täterarbeit" in Zusammenhang stehen. Der Fokus liegt dabei auf den Perspektiven und Arbeitsansätzen der Männerberatungsstellen im Bereich der Täterarbeit bei Gewalt in der Familie.

Zum 1. Teil: Opferschutzorientierte Täterarbeit: Rückblick

Autoren:  Christian Scambor und Alexander Haydn

Thema Februar 2021

Es gibt eine Reihe von offenen Fragen und Problemen im Zusammenhang mit OTA, z. B. Unklarheiten in der Praxis, was das Fallmanagement betrifft, ungeklärte Datenschutz-Fragen, Ressourcenknappheit oder zu wenig Abstimmung der Täterarbeit auf die individuellen Bedarfe und Risikofaktoren der Klienten (vgl. Scambor, 2017).

Häufig wird unter OTA lediglich ein Anti-Gewalt-Training im Gruppensetting verstanden, was viel zu kurz greift, denn: "Effektive Täterarbeit umfasst mehr als Anti-Gewalt Trainings" (Kraus & Logar, 2014, S. 392).

Die Autor_innen betonen daher die Wichtigkeit von "täterbezogenen Interventionen", die sehr breit verstanden werden müssen: "Dazu gehören bspw. polizeiliche Wegweisungen und Sanktionen für Übertretungen, einstweilige Verfügungen, strafrechtliche Sanktionen, Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe zur Prävention von Gewalt in der Familie und Interventionen medizinischer und psychiatrischer Einrichtungen" (Kraus & Logar, 2014, S. 392).

Und auch Täterarbeit im Verschwiegenheitsparadigma kommt hier wieder ins Spiel. Was das Spannungsfeld der Täterarbeits-Ansätze (Beratungsansatz versus OTA-Ansatz bzw. Verschwiegenheitsparadigma versus Kooperationsparadigma) betrifft, haben Haydn und Scambor (in Druck) vorgeschlagen, die beiden Ansätze mit verschiedenen Arbeitsfeldern zu verknüpfen, die im Grad der Einbindung von überweisenden Einrichtungen bzw. institutioneller Zuweisung variieren.

Der Bereich zwischen Dunkelfeld und Hellfeld wird dabei als Kontinuum betrachtet. Der Vorschlag ist für das Problemfeld Gewalt in der Familie konzipiert, lässt sich aber auch auf andere Konstellationen von Gewalt übertragen (mit der Ausnahme von Betretungsverboten nach § 38 SPG, die den häuslichen Kontext betreffen).

Generell gilt: Im Dunkelfeld weist die Arbeit im Verschwiegenheitsparadigma Stärken auf und ist oft die einzige Möglichkeit zu intervenieren. Je weiter sich der Kontext eines Falles aber vom Dunkelfeld entfernt und je mehr weitere Akteur_innen ins Spiel kommen, desto mehr rücken die Stärken der Arbeit im Kooperations-Paradigma in den Vordergrund.

Verschwiegenheits- und Kooperations-Paradigma

Grafik Verschwiegenheits- und Kooperations-Paradigma

Ein Kontext, der den Aufbau einer Einrichtungsübergreifenden Arbeit an einem Fall häufig erschwert, sind ungelöste Datenschutz-Fragen. Gelingt es nicht, die Zustimmung des Täter und des Opfers zu erhalten, dass sich Professionist:innen zum Fall austauschen dürfen (auf der Basis von Verschwiegenheitsentbindungen beider Seiten), dann stehen Täterarbeits-Einrichtungen, die sich fallbezogen vernetzen wollen, vor dem Dilemma, im Verschwiegenheitsparadigma arbeiten zu müssen oder einen Fall abzubrechen, obwohl eine Intervention vom Klienten aus möglich wäre.

Im Gegensatz dazu steht die Täterarbeit im Verschwiegenheitsparadigma im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben und jenen für die Arbeit in Familienberatungsstellen. (Die Regelungen bei Gefahr in Verzug oder die Meldepflicht bei Kindeswohlgefährdung betreffen hingegen beide Arbeitsansätze gleichermaßen).

Datenschutz in der Täterarbeit im Kooperationsparadigma

Wie komplex Datenschutz-Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Täterarbeit im Kooperationsparadigma sein können, zeigen die folgenden Beispiele. Denn wenn es darum geht, wie die fallbezogene Vernetzung zwischen Täterarbeit und Opferschutz eingeleitet werden kann, dann bestehen in den verschiedenen Einrichtungen derzeit unterschiedliche Perspektiven und Praxen zum Datenschutz.

Eine häufige Vorgangsweise besteht darin, dass die Einrichtung, die sich mit einer anderen Einrichtung fallbezogen vernetzen will, die Einwilligung des Klienten / der Klientin zum Informationsaustausch einholt. Entweder werden die Namen des Klienten / der Klientin und des Partners / der Partnerin an die andere Einrichtung weitergegeben und dort die Einwilligung der anderen betreuten Person zum Informationsaustausch eingeholt, oder es erfolgt die Nennung nur einer Person, und die zweite Einrichtung erhebt, ob der Fall und damit die dazugehörige Person bekannt ist, um dann die Einwilligung zum Informationsaustausch einzuholen.

Die Daten einer Person werden hier "verarbeitet" (d. h. gemeldet, Suche in der Datenbank etc.), noch bevor diese Person ihre Einwilligung dazu gegeben hat (denn diese wird erst rückwirkend eingeholt). Bei diesen Vorgangsweisen wird jeweils eine Güterabwägung vorgenommen, die den Opferschutz über den Datenschutz stellt. Bei Gewalt in der Familie, so das Argument, darf nicht der Datenschutz die Möglichkeiten zum Schutz der gewaltbetroffenen Personen, die durch die Kooperation entstehen, verhindern.

Eine andere Praxis besteht dort, wo eine Einrichtung den Schritt der "Vorab-Verarbeitung" der Daten der nicht betreuten Person ablehnt, sondern von der anderen Einrichtung die Einwilligung zur Datenweitergabe von beiden Personen übermittelt bekommen möchte. Es ist dann die Aufgabe der – typischerweise – Täterarbeits-Einrichtung, auch einen Kontakt zur Ex-/Partnerin herzustellen, um von ihr die Zustimmung zur Datenweitergabe an eine Opferschutzeinrichtung zu erhalten.

Falls die Ex-/Partnerin dort noch nicht oder nicht mehr betreut wird, erfolgt ein entsprechender Vermittlungsversuch, damit der fallbezogene Austausch über die Einrichtungen laufen kann. Gelingt dies nicht, dann wird der Ex-/Partnerin angeboten, dass der Kontakt zwischen ihr und der Täterarbeitseinrichtung aufrechterhalten wird und sie Informationen über die Arbeitsweise des Täterarbeits-Programms erhält. Interessanterweise führt die deutsche BAG TäHG die letztgenannte Vorgangsweise als Standard (vgl. BAG TäHG, 2018; Steingen, 2020).

OTA-Konzepte und praktische Umsetzung

Jenseits von Datenschutz-Problemen haben kritische Stimmen in der Fachdiskussion auf den starken Fokus auf Gewalt von Männern gegen ihre Ex-/Partnerinnen hingewiesen und sich für eine Erweiterung der Perspektive ausgesprochen. In den OTA-Standards heißt es dazu: "Das Prinzip der Opferschutzorientierung soll (längerfristig) auch auf Täterarbeit bei anderen Gewaltformen und Konstellationen angewandt werden" (BAG OTA, 2016, S. 1), wobei aber offen bleibt, wer die entsprechenden Schritte setzen soll.

Kinder werden beispielsweise in den Standards dann mitgedacht, wenn sie Gewalt an der Mutter miterleben oder zusätzlich zur Frau auch direkt von der Gewalt des Vaters betroffen sind. "Für andere Formen von Gewalt (Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, Kindesmisshandlung durch Eltern – wenn keine Gewalt zwischen den Eltern vorliegt, Gewalt von Kindern gegen Eltern, Gewalt von Frauen gegen (Ex-)Partner, etc.) sind eigenständige Konzepte zu entwickeln" (BAG OTA, 2016, S. 3). Die Arbeit an entsprechenden OTA-Konzepten steht aber in vielen Bereichen noch aus.

Es liegt nahe, dass OTA-Konzepte, die z. B. auf Kinder fokussieren, eine Arbeitsgruppe mit einer erweiterten Zusammensetzung von Akteur:innen erfordern werden, mit Einbezug von Kinderschutzzentren oder der Kinder- und Jugendhilfe. In der eingangs erwähnten Arbeitsgruppe von 1998 waren diese Akteur:innen vertreten – und die Broschüre enthielt dann auch spezielle Standards, die auf die Täterarbeit bei sexueller Gewalt gegen Kinder bezogen waren (vgl. BMUJF, 1999).

Trainingsprogramm zur gewaltfreien Erziehung (TPgE)

Ein Beispiel für die praktische Umsetzung der Täterarbeit im Kooperationsparadigma bei Gewalt gegen Kinder ist das "Trainingsprogramm zur gewaltfreien Erziehung (TPgE)", das seit 2014 von der Wiener Männerberatung angeboten wird. Hierbei wird auf Tätergruppen fokussiert, die Gewalt gegen Kinder und Stiefkinder ausüben.

Im Sinne des Kooperationsparadigmas gibt es eine enge Vernetzung mit der Kinder- und Jugendhilfe. Methodisch interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im TPgE gute Erfahrungen mit ressourcenorientierten Ansätzen gemacht werden, indem Werthaltungen, Erlebens- und Verhaltensweisen der Teilnehmer verstärkt werden, die zu einer gewaltfreien und konstruktiven Vaterrolle gehören.

Paarsetting des ZÖF & Projekt "G.i.F – Gewaltprävention im Familiensetting"

Auch die Klärungsgespräche im Paarsetting des ZÖF (Zusammenschluss Österreichischer Frauenhäuser) und das Projekt "G.i.F – Gewaltprävention im Familiensetting" können als Beispiele angeführt werden, welche Weiterentwicklungen im Bereich der OTA, die über die bekannten Anti-Gewalt-Trainings im Kooperationsparadigma hinausgehen, möglich sind.

Insbesondere das Projekt G.i.F steht für eine systemische Zugangsweise in der Arbeit gegen Gewalt in der Familie, indem mehrere Interventions-Ebenen miteinander verbunden werden. Das Projekt wird vom Verein Frauenhäuser Steiermark geleitet und mit der Männerberatung/Gewaltarbeit (Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark) sowie dem Verein Neustart umgesetzt. Frauen, die von Gewalt betroffen sind, und deren Kinder werden vom Team der Frauenhäuser betreut.

Bausteine des Projekts sind gemeinsame Risikoeinschätzungen (Frauenhaus/Männerberatung), Einzelbetreuung von Frauen (Frauenhaus), eine Gewaltpräventionsgruppe für Frauen (Neustart), eine Kindergruppe (Frauenhaus), Klärungsgespräche im Paarsetting unter bestimmten Bedingungen (Frauenhaus/Männerberatung) und Täterarbeit in verschiedenen Formen (Männerberatung). In diesem Projekt werden die zentralen OTA-Standards umgesetzt (Unterstützungsprogramm für gewaltbetroffene Frauen und Kinder; Täterarbeit; Kooperation zwischen Opferschutz und Täterarbeit auf institutioneller und Fall-Ebene).

Ausblick

Die Tatsache, dass solche Weiterentwicklungen in den österreichischen OTA-Standards Platz haben, spricht für die Standards. Diese fokussieren auf wesentliche Aspekte in der Arbeit mit einer klar umrissenen Gewalt-Konstellation (Männer, die Gewalt gegen ihre Partnerinnen ausüben, mit-/betroffene Kinder).

Auf die Möglichkeit von entsprechenden Vorgangsweisen für andere Gewalt-Konstellationen wird hingewiesen, ohne näher darauf einzugehen. Formulierungen, die bestimmte Ansätze oder Settings einschränken könnten, wurden vermieden (z. B. hinsichtlich bestimmter Akteur:innen, täterbezogener Interventionen oder dem Paarsetting).

Dadurch können sich zukunftsweisende Kooperationen und Projekte abseits der bekannten Pfade herausbilden, die dennoch den Bezug zu den OTA-Standards nicht verlieren. Auf die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Täterarbeit im Kooperationsparadigma bei Gewalt in der Familie wird auch im internationalen Kontext hingewiesen, z. B. im Zusammenhang mit der Perspektive auf die Kinder, mit dem Paarsetting oder mit behandlungsrelevanten psychischen Problemen, wenngleich solche Weiterentwicklungen nicht reibungslos verlaufen:

"... the development of other interventions has been hampered by an anxiety amongst victims and survivor groups that other approaches, such as couple counselling, may inadvertently increase, rather than decrease, the risk to victims. This anxiety is understandable, but there is also a need to accept that the development of additional evidence based interventions is required, particularly in relation to the intersection with other issues such as substance misuse and poor mental health." (Devaney & Lazenbatt, 2017, S. 111)

Literatur

  • [1] Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie: Täterarbeit – ein Beitrag zum Opferschutz. Modelle, Grundlagen & Standards. Wien, 1999
  • [2] Brem, J., Lueger-Schuster, B., Kucera, C. & Webhofer, A.: Opferschutz durch Rückfallsprävention. Das Wiener Sozialtherapeutische Programm für Sexualtäter. Wien: Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen., 2002
  • [3] Bundesarbeitsgemeinschaft Opferschutzorientierte Täterarbeit: Standards Opferschutzorientierte Täterarbeit Online, 2016
  • [4] Bundesministerium für Inneres & Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie: Männer machen Schluss mit der Gewalt. Handbuch für die Gruppenarbeit. Wien
  • [5] Bundesministerium für Bildung und Frauen: Nationaler Aktionsplan zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung 2014 bis 2016. Online, 2014
  • [6] Council of Europe: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und erläuternder Bericht (Council of Europe Treaty Series - No 210). Online, 2011
  • [7] Devaney, J. & Lazenbatt, A.: Domestic Violence Perpetrators London: Routledge., 2017
  • [8] Gärtner, M. & Scambor, E.: Caring Masculinities. Über Männlichkeiten und Sorgearbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 70 (45), 22-27, 2020
  • [9] Haydn, A. & Scambor, C.: Täterarbeit – ein Beitrag zum Opferschutz. Frauen.Wissen.Wien (Nr. 11). Wien: Frauenservice Wien
    (in Druck) [2021]
  • [10] Kraus, H.: Trainingsprogramm zur Beendigung von gewalttätigem Verhalten in Paarbeziehungen. Interne Evaluation (1999-2012). Unveröffentlichtes Manuskript, 2013
  • [11] Kraus, H. & Logar, R.: Opferschutzorientierte Interventionen für Täter als wichtige Maßnahme der Gewaltprävention. In: juridikum, 3/2014, 391-397., 2014
  • [12] Macrae, R. & McKinna, G.: Community Justice Scotland, Scotland: The Caledonian System - Scotland‘s integrated approach to address men’s domestic abuse and to improve the lives of women, children and men (Workshop 1 at the Annual Conference of Work With Perpetrators – European Netw Online, 2020
  • [13] Morran, D. & Wilson, M.: Men who are violent to women. A Groupwork Practice Manual. Lyme Regis: Russell House, 1997
  • [14] Phillips, R., Kelly, L. & Westmarland, N.: Domestic violence perpetrator programmes: an historical overview. London and Durham: London Metropolitan University and Durham University, 2013
  • [15] Scambor, C.: Zwischenbilanz: Opferschutzorientierte Täterarbeit. Stand der Entwicklung in Österreich und offene Fragen. In: juridikum, 2017/4, 552-558., 2017
  • [16] Steingen, A.: Gespräche mit der gewaltbetroffenen (Ex-)Partnerin im Rahmen der Täterarbeit HG In: A. Steingen (Hrsg.), Häusliche Gewalt. Handbuch der Täterarbeit (S. 291-293), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020
  • [17] Kelly, L. & Westmarland, N.: Domestic Violence Perpetrator Programmes: Steps Towards Change. Project Mirabal Final Report. London and Durham: London Metropolitan University and Durham University, 2015

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