Prävention von geschlechtsbezogener und sexualisierter Gewalt an Mädchen* und Frauen* als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen, über 25 Jahren Erfahrung in der feministischen Beratungs- und Bildungsarbeit mit Mädchen* und jungen Frauen* und in Anlehnung an das Leitbild des Vereins EqualiZ – Gemeinsam vielfältig! haben wir „hingeschaut, nachgedacht, gelernt" und im Projekt Yes We Do – Gemeinsam gegen GEWALTige Welten von Mädchen* und Frauen* ein neues Konzept zur Gewaltprävention on- und offline entwickelt, als Pilot umgesetzt, evaluiert und anhand der Ergebnisse für den weiteren Einsatz überarbeitet.

Unser Ziel war und ist es, Gewaltprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen und möglichst viele Menschen dafür zu gewinnen, sich für von Sexismus und Gewalt betroffene Mädchen* und Frauen* einzusetzen und sie zu stärken. Die Hintergründe unseres Ansatzes werden im Folgenden erläutert.

Die Istanbul Konvention 2011[1] (seit 2014 in Österreich in Kraft) hält fest, dass die Ursachen für Gewalt an Mädchen* und Frauen* im System ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse von Männern* und Frauen* verankert sind. Diese (re)produzieren sich in gesellschaftlichen Strukturen, der mehrheitlich gelebten (Alltags)Kultur sowie symbolischen Diskursen[2] der Politik, der Medien und der Bevölkerung. Getragen werden sie von traditionellen dualen Vorstellungen von Weiblichkeit (Dominanz bis hin zu Gewalt erdulden bzw. aushalten müssen) und Männlichkeit (Dominanz bis hin zu Gewalt ausüben)[3], die neben modernen Vorstellungen von Weiblichkeit (vor allem in der Erwerbsarbeit[4]) und Männlichkeit (vor allem in der Fürsorgearbeit[5]) weiter bestehen und wirken.

Das in den 1970er Jahren von amerikanischen Feministinnen* entwickelte pyramidenförmige Modell der Rape Culture[6] (Vergewaltigungskultur) verdeutlicht, wie strukturell und in der Durchschnittsbevölkerung weit verbreitete Phänomene wie Sexismus, Frauen-feindlichkeit, ungleiche Bezahlung (Gender Pay Gap, segregierter Arbeitsmarkt, ...), Victim-Blaming usw. zunehmend intensivere Formen von Gewalt stützen und (mit)tragen.

So wird in der Zuspitzung geschlechtsbezogener Gewalt das Recht auf Würde von Mädchen* und Frauen* untergraben, ihre Autonomie und Selbstbestimmung eingeschränkt und letztendlich mit klarer Gewalt ihre körperliche Unversehrtheit bis hin zur Tötung angegriffen[7]. Die Spezial-Eurobarometer Studie 2016[8] spiegelt für Österreich zu diesem breiten Fundament der Rape-Culture-Pyramide folgendes Bild wider:

  • 32 % der Österreicher*innen stimmen der Meinung zu, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann
  • 24 % glauben, dass Frauen* Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfe oft erfinden
  • 23 % sind überzeugt, dass betroffene Frauen* die Gewalt selbst provoziert haben und
  • 62 % sind gegen eine strafrechtliche Verfolgung von verbaler Gewalt, wozu u.a. offen geäußerter Sexismus und Frauenverachtung zu zählen sind.

In dieser durch viele Alltagsbegebenheiten und -diskurse vermittelten Atmosphäre fühlen sich Täter* in ihrem individuellen Dominanz- und Gewaltverhalten bestärkt. (Betroffene) Mädchen* und Frauen* hingegen werden mit dem Gefühl von Ohnmacht und einer scheinbaren Normalität alleine gelassen, die sie zum Verstummen bringt und oft gar nicht erst auf Unterstützung und Hilfe hoffen lässt.

Im direkten Beratungs- und Bildungskontakt mit Mädchen* und Frauen* wird deutlich, dass Ungleichheit, Diskriminierung, Sexismus und viele (weitere) Formen von Gewalt (auch von ihnen selbst) nicht als solche eingeordnet, wahrgenommen und/oder als „ist halt so" und „nicht veränderbar" eingeschätzt werden.

Ausdruck findet diese Ohnmacht in der niedrigen Anzahl der Anzeigen und Verurteilungen bei Gewaltdelikten und hohen Dunkelziffern[9]. Hinzu kommt besonders bei jungen Frauen*, dass Gewaltschutz im medialen und gesellschaftlichen Diskurs v.a. unter dem Aspekt der häuslichen und familiären Gewalt thematisiert wird.

Beziehungsgewalt in Jugendbeziehungen, die meist nicht in häuslicher bzw. familiärer Gemeinschaft gelebt werden, gerät so trotz erschreckender Zahlen oft aus dem Blickfeld. Im Zuge der repräsentativen Erhebung des EU-Projekts Love & Respect – Preventing Teen Dating Violence II wurden 2018 in Österreich 753 Personen im Alter zwischen 16 und 26 Jahren zu ihren ersten Beziehungen befragt – rund 57 % gaben an, bereits Erfahrungen mit psychischer, körperlicher, sexualisierter und/oder ökonomischer Gewalt gemacht zu haben[10].

Die COVID-19 Pandemie hat den gesellschaftlichen Digitalisierungsprozess beschleunigt. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene erleben die reale/analoge und die virtuelle/digitale Welt des worldwideweb nicht als zwei voneinander getrennte Welten, sondern als die eine Welt, in der sie leben. Das gilt auch für die unterschiedlichen Bereiche, in denen sie sich in ihrem Lebensalltag aufhalten und in denen sie von Diskriminierung, Sexismus und Gewalt betroffen sein können. Erfahrungen und Beobachtungen aus den unterschiedlichsten Lebenswelten fließen in der individuellen Wirklichkeit zusammen und prägen das Bild von individuellen Chancen, Begrenzungen und Gefahren.

Grafik Lebenswelten von Mädchen und Frauen

Die digitale Welt gibt der Diversität breiten Raum und (diskriminierten) Minderheiten neue Möglichkeiten der selbstbewussten vielfältigen Inszenierung. Auf den Mainstream-Kanälen mit großer Reichweite im Internet dominiert jedoch eine Doing-Gender-Performance traditioneller Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder[11], welche die ungleichen Machtverhältnisse der Geschlechter (re)produzieren.

Abweichungen von stereotypen Inszenierungen (Geschlecht, aber auch Alter, Ethnie, Kultur, Religion, soziales Milieu, ...) führen zu Einbußen in der Anerkennung (nicht nur) durch die Web-Community, der Reichweite der Posts und den damit verbundenen monetären Chancen[12].

Gewalt im nahen sozialen Umfeld bekommt durch die Digitalisierung zusätzliche Brisanz. Nivedita Prasad (2021) hält dazu fest:

"Digitale geschlechtsspezifische Gewalt im sozialen Nahraum ist weder ein Phänomen von Einzelfällen noch ein neues Phänomen. Vielmehr ist es geprägt von schnelllebigen technologischen Entwicklungen und unterliegt in vielen Bereichen denselben Dynamiken wie analoge Formen geschlechtsspezifischer Gewalt. Hierzu gehört, dass die Gewalt in der Regel von (einst) vertrauten Personen aus dem direkten sozialen Umfeld ausgeht, den Betroffenen häufig eine Mitschuld an das Erlebte zugeschrieben wird und sie in der Durchsetzung ihrer Rechte oft nicht ernst genommen werden. Bei digitaler Gewalt kommt erschwerend hinzu, dass diese häufig nicht erkannt oder in ihrer Wirkmächtigkeit als solche wahr genommen wird." [13]

Referenzen

  • [1] Istanbul Konvention gegen Gewalt
  • [2] vgl. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft.
  • [3] Vgl. Ganterer, Julia: Weiblichkeit im Kontext häuslicher Gewalt. In: Sozialpädagogische Impulse, Heft 4/2020
  • [4] Quelle: Debus, Katharina: Widersprüchlich und anstrengend! Aktuelle Weiblichkeitsanforderungen zwischen Tradition und Modernisierung; Onlinevortrag am 02.03.2021
  • [5] siehe u.a. Gärtner, Marc & Scambor, Elli (2020). Caring Masculinities. Über Männlichkeiten und Sorgearbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 70. Jahrgang, 45/2020
  • [6] eine der ersten Erwähnungen finden sich in: Connell, Noreen/Wilson, Cassandra (1974): Rape: the first sourcebook for women, siehe dazu auch u.a. EIGE Europäische Institut für Gleichstellungsfragen: Rape Culture
  • [7] siehe u.a. Vision Mission Statement
  • [8] vgl. Spezial-Eurobarometer-Studie (EBS) 449, 2016
  • [9] siehe dazu zB für Deutschland folgende Zahlen im Primärbericht zur Erwachsenensexualität 2020 des Institutes für Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg (PDF): 42 % der befragten Frauen* haben einen Vergewaltigungsversuch erlebt, 28 % der Frauen* eine Vergewaltigung. 97% aller Frauen* und 95% aller diversen Personen haben Erfahrung(en) mit sexueller Belästigung. Nur 8 % der betroffenen Frauen* erstatteten eine Anzeige. Im Kindesalter werden ca. 10 % der Taten angezeigt.
  • [10] Vgl. Kurzbericht Hazissa März 2021 (PDF).
  • [11] Quelle: Witting, Tanja: Doing Gender in digitalen Lebenswelten, Ostfalia – Hochschule für angewandte Wissenschaften, Online-Vortrag 22.10.2020
  • [12] ebd.
  • [13] bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe / Nivedita Prasad (Hg.) 2021: Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien. S. 311 (EPUB - kostenloser Download)

Weiterführende Informationen